Potsdam-Mittelmark: Zurück aufs Gleis
Die achtjährige Julia hat ADHS / In der Kinderreha Beelitz-Heilstätten schult sie ihre Konzentration
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Die achtjährige Julia hat ADHS / In der Kinderreha Beelitz-Heilstätten schult sie ihre Konzentration Von Kirsten Graulich Beelitz · Heilstätten – Aus einem Zimmer ertönt Freudengeheul und plötzlich wirbelt Julia über den Flur. Mal tapst sie als Hund und im nächsten Augenblick hoppelt sie als Hase auf dem Boden rum, denn die Achtjährige freut sich, weil ihre Mutter sie besucht. Erst nach einigen Minuten legt sich ihr ungestümer Temperamentsausbruch. Noch fällt es der Achtjährigen schwer, ihre Impulsivität unter Kontrolle zu bringen, aber sie habe bereits große Fortschritte gemacht, bescheinigen ihr Ärzte und Erzieher der Rehabilitationsklinik für Kinder und Jugendliche in Beelitz-Heilstätten. Dort wird sie seit sieben Wochen behandelt und betreut, denn Julia leidet unter ADHS, dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität. Kinder wie Julia erleben in nur wenigen Sekunden extreme Gefühls- und Wahrnehmungsschwankungen. ADHS ist eine neurobiologische Störung, welche durch erhebliche Beeinträchtigung der Konzentration und Unruhe gekennzeichnet ist. Die Kinder machen, was sie wollen, sind schwer zu bändigen, werden auch unvermittelt aggressiv. Wie in einer Szene auf dem Flur der Klinik: Ein Spielzeugauto kurvt im Zickzack entlang, zwei Jungen hinterher. Unvermittelt stürzt einer von ihnen in ein Zimmer, weil er durch den Türspalt etwas erspähte, was ihn mehr interessiert. Der andere entdeckt am Ende des Flures einen Freund, den er jetzt unbedingt sprechen muss, und prescht davon. Das Spielzeugauto kracht gegen die Wand und bleibt mit ratternden Rädern dort liegen. Oft reagiert die Umwelt mit Unverständnis, denn die meisten halten ADHS-Kinder für schlecht erzogen. Lehrer sind da nicht ausgenommen, wie die Chefärztin der Rehaklinik, Dr. Heike Hoff-Emden weiß: Immer wieder erfährt sie aus Gesprächen mit Eltern, dass Lehrer, die keine Erfahrung mit ADHS haben, die Kinder als Belastung betrachten. Aber Hoff-Emden kennt auch Schulen, in denen es sogar ADHS-Klassen gibt. Sie selbst bietet den Lehrern Gespräche an, wenn die Eltern einverstanden sind. Denn so manches ADHS-Kind lande auf einer Sonderschule, obgleich seine Leistungen für den regulären Schulbetrieb ausreichend sind. Auch die Eltern stoßen irgendwann an ihre Grenzen, weil die Kleinen das Leben einer Familie ganz schön durcheinander wirbeln können. Am Samstag konnten sie sich zum „Deutschen Reha-Tag“ in der Klinik beraten lassen und mit Betroffenen ins Gespräch kommen. Als Julias Mutter von der Diagnose erfuhr, war sie erleichtert und zugleich bestürzt. Sie musste nun nicht mehr an ihren Fähigkeiten als Mutter zweifeln und war auch froh, dass ihre Tochter sich nicht willentlich aggressiv benahm, sondern sich nicht kontrollieren konnte. Klar wurde ihr aber auch, dass sie nun Strategien entwickeln musste, um Julias Unruhe in den Griff zu bekommen. Aber vor allem brauchte ihre Tochter Hilfe. In der Therapie, die Julia nun in der Beelitzer Rehaklinik absolviert, lernt sie, dass es Regeln gibt, die sie einhalten muss, um aus dem eigenen Chaos herauszukommen. In einer Gruppe von Gleichaltrigen schult sie spielerisch ihre Konzentrationsfähigkeit und erfüllt Aufgaben, die kontrolliert werden. Motiviert wird sie durch Lob. Ein klar strukturierter Alltag soll Julia helfen, ihr Leben „wie auf Schienen“ zu bewältigen. Anfangs hatte sie Heimweh, das geht den meisten so. Aber auch Julias Mutter sehnte sich nach der Tochter, obwohl sie seit langer Zeit zu Hause erstmals Ruhe fand und die Ärzte ihr rieten, sich ein bisschen zu erholen. „Es ist zu ruhig“, gesteht sie und erzählt wie sehnsüchtig sie auf die wöchentlichen Telefontage wartet, um Julias Stimme hören zu können. Auch den Besuchstag am Samstag hatten beide herbeigesehnt und nach dem stürmischen Empfang trippelt Julia mit ihrer Freundin Sandra brav zum Spielplatz, um ihrer Mutter zu zeigen, wie toll es hier ist. Zuvor laufen sie im Treppenhaus vorbei an Zeichnungen, Bildern und Skulpturen, vor denen manche Eltern staunend stehen bleiben, weil sie kaum glauben können, dass ihre Kinder so kreativ sein können. In der Ergotherapie-Werkstatt können die Kinder sägen, hämmern, töpfern und malen. Einige zimmerten ein Boot für den Spielplatz, andere schnitzten Gesichter und Zeichen in einen Stamm, den sie danach farbig bemalten. „Dass ADHS-Kinder kreativ, begabt und erfinderisch sind wird beim Blick auf ihre Mängel oft übersehen“, weiß Dr. Heike Hoff-Emden, Chefärztin der Rehaklinik. Viel wäre deshalb schon gewonnen, wenn die Gesellschaft den Blick mehr auf die Stärken dieser Kinder richten würde.
Kirsten Graulich
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