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Potsdam-Mittelmark: Zwischen Traum, Liebe und Tod

Vor 200 Jahren erschoss sich Heinrich von Kleist – nachzulesen in einem Stahnsdorfer Kirchbuch

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Stahnsdorf - Der 21. November 1811 ist ein klirrend kalter Herbsttag. Zwei vergnügte junge Menschen sind an diesem Nachmittag die einzigen Gäste am Kleinen Wannsee, unweit des Gasthofs „Stimmings Krug“. Wie Kinder jagt sich das Pärchen am Ufer. Im Schein der Abendsonne wirbeln sie Laub auf. Sie nennen sich „Herz“ und „Herzchen“, lassen sich zur Verwunderung der Gastleute Kaffee und Rum ans Ufer servieren. Etwa vier Uhr hallen unverhofft zwei Schüsse durch die klare Luft. Die Stimmen sind verstummt. Der Dramatiker Heinrich von Kleist hat seiner Freundin Henriette Vogel eine Kugel ins Herz gejagt, danach sich selbst eine zweite in den Kopf.

„O tempora! O mores!!“ – oh Zeiten, oh Sitten – Heinrich von Kleist ist tot. In einem über 200 Jahre alten Kirchenbuch der Stahnsdorfer Pfarrei ist vom Selbstmord des berühmten deutschen Dichters zu lesen. Es ist eine der wenigen Originalquellen, die davon berichten. Anlässlich des sich nähernden 200. Todestages von Kleist wird die Stahnsdorfer Kirchengemeinde das Kirchbuch am Pfingstsonntag erstmals in der Kirche öffentlich ausstellen, sogar bis spät in die Nacht.

Als Pfarrer ist Peter Edert für die großen und kleinen Schätze im Stahnsdorfer Kirchenarchiv verantwortlich. „Das war mit das Erste, was man mir hier bei meinem Antritt 1997 gesagt hat.“ Ungeduldig klimpert Edert mit seinem Schlüsselbund herum. „Das ist der falsche“, murmelt der Kirchenmann vor der großen grauen Stahltür im Keller des Pfarrhauses. Im kargen Licht der Kellerlampe ist der richtige Schlüssel kaum auszumachen. Dann klackt es und die Tür zum Kirchenarchiv öffnet sich. Es ist ein unscheinbarer Schatz, der sich hier im Kirchenbuch mit der Registrierungsnummer 9358 auf Seite 410 verbirgt. „Was heißt gefunden?“, fragt Edert, als er das braune Buch aus dem Stahlschrank zieht. „Der Eintrag war schon immer da.“ Mit spitzer Feder und langlebiger Tinte wurde auf den dicken Papierseiten Kleists Freitod und der zuvor von ihm begangene Mord festgehalten.

Am Ufer des Kleinen Wannsees schoss der Dichter der krebskranken Salondame in die Brust. Sie wehrte sich nicht. Noch am Morgen hatte auch Kleist in einem Brief an seine Lieblingsschwester Ulrike seinen Freitod angekündigt – „... die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war“, schreibt er darin. Kleists Freunde hatten sich aus Berlin zurückgezogen, wo er zuletzt lebte. Hinzu kamen Probleme mit der Familie, denn im Gegensatz zu seinen Vorfahren verweigerte sich Kleist der Karriere in der Armee.

Statt zur Waffe griff er zur Feder, verfasste unter anderem das Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ oder die Novelle „Die Marquise von O.“ Zuletzt war er allein und pleite. Vom Schmerz überwältigt, sehnte sich der Dramatiker nach dem Tod. Als Henriette Vogel ihn aufforderte, sie zu erschießen, widerstand er nicht. Am Ufer des Sees, nicht weit entfernt der Berliner Chaussee, wurden die beiden bestattet.

Vermutlich genau deshalb findet sich die Nachricht des Todes Kleists in den Stahnsdorfer Kirchenbüchern, sagt Pfarrer Peter Edert. In ihnen sind Todesdaten der Gemeindeglieder festgehalten. „Es ist möglich, dass das Gebiet damals zur Pfarrei Stahnsdorf gehörte.“ Sicher sei das nicht. Im Dreißigjährigen Krieg seien fast alle Stahnsdorfer Kirchenunterlagen zerstört worden. Umso sorgsamer soll der Schatz neuerer Zeit gehütet werden. In einer Glasvitrine soll das aufgeschlagene Kirchbuch ausgestellt werden, nachts kommt es wieder unter Verschluss.

„Der Tod Kleists ist eine haarige Geschichte, ein Selbstmörder, der zugleich ein Mörder ist, das war schon ziemlich skandalös“, sagt Edert, als er mit dem Finger über die Zeilen gleitet. Vielleicht hat der Autor des Kirchbucheintrags deshalb mit sich gehadert: „O tempora! O mores!!“

Bis in den Herbst hinein soll das Buch immer sonntags in der Zeit von 14 bis 17 Uhr zu sehen sein.

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