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Potsdam-Mittelmark: Zwischen Venedig und Kasernenhof

Neues Buch über die Geschichte der Havelauen mit neuen Fakten und interessanten Begebenheiten

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Werder (Havel) - Die Pläne, die Havelauen zu bebauen, sind älter als mancher Bewohner des neuen Stadtquartiers im Norden Werders vielleicht denkt. Schon vor 100 Jahren hatte es einen Bebauungsplan für das Areal gegeben, das damals „Werdersche Wiesen“ hieß. Landhäuser sollten um einen Kirchplatz entstehen, am Zernsee eine Seepromenade. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Stadtbevölkerung fast verdoppelt, man suchte nach Expansionsflächen.

Es sind teils neue Fakten, die die Historiker Rainer Lambrecht und Klaus-Peter Meißner für ein neues Buch über die Geschichte der Havelauen ausgegraben haben. Titel: „Die Havelauen. Dynamik zwischen Friedrichshöhe und Großem Zernsee“. Meißner ist heute als Geschäftsführer der Havelauen-Projektgesellschaft GmbH für die Dynamik mitverantwortlich. Ziel der Veröffentlichung: zur Identitätsstiftung im neuen Quartier beitragen.

Das in Literatur und Archiven recherchierte Buch beginnt dazu mit der eisenzeitlichen Siedlung südlich der Wiesen, die auf historischen Flurkarten noch als „Alte Dorfstelle“ gekennzeichnet war. Es widmet sich ausführlich der Luftkriegsschule, die die Nazis hier errichten ließen, und erstmals wird in dieser Ausführlichkeit die Zeit der Russischen Garnison beschrieben. Das Buch endet in der Gegenwart, in der eine ganze Reihe kühner Nachwendepläne für das 130 Hektar große Wohn- und Gewerbeareal sich ihrer kaum noch erwarteten Umsetzung nähern.

Um eine naturbelassene Auenlandschaft, auch das wird klar, hat es sich bei den Werderschen Wiesen in der jüngeren Geschichte nie gehandelt. Die parzellierten Wiesen wurden als Grasland bewirtschaftet, später folgten Obstgärten und Lauben. Auch die Wirtschaft hatte am Rande schon früh ihren Platz: Ziegeleien wurden von Faserholz-, Zellulose- und Lebensmittelfabriken abgelöst. Dezidiert werden die Firmen dargestellt, die sich seit dem 18. Jahrhundert hier befanden.

Die 176 Seiten sind mit Fotos, historischen Karten und Planzeichnungen reich illustriert. Auch mit jüngeren Dokumenten gelingt hier und da eine Überraschung, so mit einer Planzeichnung aus dem Jahr 2006: Um die Stagnation zu durchbrechen, hatte ein Projektentwickler vorgeschlagen, den neuen Stichhafen zum Kanalnetz aufzuweiten. Aus den Havelauen wäre ein Werdersches Venedig geworden – wenn sich ein Investor für die 29 Millionen Euro teure Erschließung gefunden hätte. Ähnliche Ideen für ein System aus befahrbaren Wassergräben hatte es Ende der 1920er Jahre gegeben. Seinerzeit gab es einen zweiten Anlauf für die Besiedlung, die Eigentümer hofften offenbar auf eine Wertsteigerung, wenn alle Baugrundstücke Wasserzugang haben. Diesmal durchkreuzten Pläne für eine Luftkriegsschule der expandierenden Wehrmacht die Vision, 1935 nahm sie den Betrieb auf.

Die Autoren vermuten, dass sich Reichsminister Hermann Göring wegen der Potsdam-Nähe für den Standort entschied. Göring nutzte das Neue Palais als barocke Kulisse für Staatsangelegenheiten und hatte sich dort einige Privatzimmer einrichten lassen. Der Wildpark sollte zum zweiten Standort der Schule werden, mutierte dann aber zur gedeckten Kommandozentrale der Luftwaffe. In Werder wurden derweil bis zum Kriegsende 1500 Flugschüler zu Offizieren ausgebildet. Zum Kriegsende wurden hier Verletzte eingeflogen, die in der zum Reservelazarett umgebauten Bismarckhöhe behandelt wurden.

Aus der geschichtlichen Darstellung der Havelauen ist etwas mehr als die ursprünglich geplante Broschüre geworden. Für den Inhalt hat es sich gelohnt, das flüssig geschriebene Werk im Hardcover zu binden. Nicht zuletzt für das Kapitel der russischen Garnison, ein neu recherchiertes in der Stadtgeschichte: Die Sowjetarmee hatte 1945 die Wehrmachts-Infrastruktur mit Kasernen und Flugzeughallen übernommen – gegen Widerstände der Kommune, die hier gern die Siedlungspläne wieder aufgenommen hätte. Stattdessen wurden, zusätzlich zum Fliegerhorst, 19 Straßenzüge mit 550 Wohnungen im Stadtgebiet konfisziert.

Bis 1957 war Werder der wichtigste Standort der russischen Luftstreitkräfte in Deutschland. Danach wurde das Areal von wechselnden Heereseinheiten genutzt, das freie Flugfeld zur Feldausbildung. 1994 gab es hier noch einen Instandsetzungsverband, der die Technik der abziehenden Truppen an Schrotthändler verkaufte. Tiefenschärfe bekommt das Buch auch durch Anekdoten wie die vom Bau des kommunalen Heizwerks, der 1982 in kurzfristiger Abstimmung mit Moskau auf einer Randfläche des Militärareals erfolgen durfte. Ein Schweinestall musste dafür abgerissen werden. Die leitenden Offiziere signalisierten, dass im Gegenzug ein größerer Stall gebaut werden soll. Ein echter Freundschaftsdienst: In den Neubau für 100 Schweine zogen sechs Borstenviecher ein.

Bernd Lambrecht, Klaus-Peter Meißner: Die Havelauen / Dynamik zwischen Friedrichshöhe und Großem Zernsee, Knotenpunkt-Verlag, 21,90 Euro.

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