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Prosaspitzen und Gedankenblitze : „Lebensknoten“ von Julien Gracq
Stimmige Analogien, pointierte Kritiken und sinnliche Szenen: Prosa aus dem Nachlass des französischen Einzelgängers Julien Gracq.
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Es kann leicht geschehen, dass man ein Leben lang liest, ohne dabei auf die Bücher von Julien Gracq aufmerksam zu werden. Zu gut versteckt sind insbesondere die deutschen Ausgaben seiner Werke. Aber auch ihr Autor hat sich sein Leben lang im Verborgenen aufgehalten, geschützt durch ein Pseudonym (während er unter seinem bürgerlichen Namen Louis Poirier als Gymnasiallehrer für Geographie und Geschichte wirkte) und ganz auf sein Schreiben konzentriert, zurückgezogen in seinem Geburtstort Saint-Florent-le-Vieil an der Loire, wo er 2007 im Alter von 97 Jahren starb.
Einst von André Breton als letzter Erbe des Surrealismus begrüßt, sagte er sich vom französischen Literaturbetrieb los, nachdem sein erster Roman „Auf Schloss Argol“ (1938) vom renommierten Verlag Gallimard abgelehnt und sein einziges Theaterstück von der Kritik verrissen worden war. Den Prix Goncourt für seinen Roman „Das Ufer der Syrten“ (1951) lehnte er stolz ab – und begründete so seinen sagenhaften Ruhm als Einzelgänger.
Diesen Roman sollte man heute ebenso neu lesen wie die thematisch verwandten „Ein Balkon im Wald“ (1958) und den nachgelassenen „Das Abendreich“ – schildern sie doch allesamt dieselbe Konstellation: eine müde gewordene Zivilisation, unfähig, sich zu verteidigen, wird nach einem lang eingefrorenen Konflikt von einem übermächtigen Feind überrollt. Gracqs Erfahrung als Soldat im sogenannten Sitzkrieg von 1939/40 ist darin eingegangen ebenso wie die ihn prägende Lektüre von Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“.
Drang nach Fiktion war erschöpft
Nach diesen Romanen hatte sich für den Autor der Drang nach Fiktionen erschöpft, und so widmete er sich seit den sechziger Jahren ausschließlich seinen Notizen – einem unerschöpflichen Fundus aus Beobachtungen, Schilderungen und Reflexionen, ausgelöst von seinen Lektüren, aber ebenso vom Erlebnis der französischen Landschaften, die er als Fußgänger und Autofahrer erkundete. Oft nur ein paar Sätze, kunstvoll gebaut, manchmal ein, zwei Seiten lange, hochkonzentrierte Meditationen in seinem unnachahmlichen Stil: plastisch, geistreich, mit überraschenden Metaphern und von einem ironisch gewürzten Urteilsvermögen, das ebenso mit englischen Ziegelsteinen wie mit französischen Literaten ins Gericht gehen kann.
Diese Notizen machen auf eine ganz merkwürdige, schwer zu beschreibende Weise süchtig. Wenn man sie ausgelesen hat, will man mehr. Ein paar Bände gibt es bereits in deutscher Übersetzung, wie die bei Droschl erschienenen „Witterungen“ oder die längst vergriffene Sammlung „Der Große Weg“, aber das reicht natürlich alles nicht. Nun ist gottlob ein neuer Band aus Gracqs Nachlass erschienen, „Lebensknoten“ betitelt und von Gernot Krämer für die Friedenauer Presse übersetzt, geräuschlos gut, so dass man die Übersetzung gar nicht merkt: Da sind sie wieder, diese rhythmisch genau austarierten Sätze, diese bis in die kleinste Nuance hinein stimmigen Analogien, deren genaue Rezeptur man nie enträtseln kann.
„Oft bleibt mir von einer Autoreise die hartnäckige Erinnerung an in der Dämmerung zurückgelegte Strecken, zu später Stunde eines Sommerabends…“ So hebt es an, und schon ist man in eigene Träumerei versunken, während man den Sätzen folgt, der Strecke, den Worten, die dastehen, und ihnen in eine unentdeckte ländliche Gegend Frankreichs folgt, die man gern einmal besuchen möchte. Und mit jedem neuen Anfang geht es ähnlich: „Schwere Maiwolken, für mich auf dem Land stets drückender, wenn sie über blühende Wiesen ziehen…“, „Heute Morgen in meinem warmen Bett…“, „Blau – für mich grundsätzlich die unbeständigste Farbe…“
Wie ein Romaneinstieg
Viele dieser Sätze lesen sich so versprechend wie ein Romaneinstieg, vielleicht sind es manchmal sogar insgeheim Erzählanfänge, denen der Autor dann nicht weiter folgte, das gibt ihnen ihren suggestiven Reichtum, so viel Ungesagtes schimmert hindurch. Wie viele solcher Notizen mögen es sein, vielleicht zweihundert? In vier Kapitel locker untergliedert, „Wege und Straßen“, „Augenblicke“, „Lesen“, „Schreiben“, aber man ist an ihre Folge nicht gebunden, sondern kann wie in einem Gedichtband vor- und zurückblättern, sich festlesen, wiederlesen.
Dabei fällt es gewiss leichter, sich in eine sinnlich geschilderte Szenerie zu versetzen, Anmerkungen über die Verwüstungen des Massengeschmacks oder den Prozess des Alterns zu folgen, als all die kritischen Urteile nachzuvollziehen, mit denen Gracq das Panoptikum der französischen Literatur an uns vorbeiziehen lässt, insbesondere der nach dem Zweiten Weltkrieg verfassten. Bleibende Freude hat er nur an einigen Großen, wie Stendhal, Baudelaire, Rimbaud, schon Proust muss hin und wieder mit Spott rechnen. Aber man muss seinen Verdikten nicht folgen, um Vergnügen zu haben an diesen Spitzen und Gedankenblitzen. Es ist ein neues Buch von Julien Gracq erschienen, und das ist immer eine gute Nachricht.
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