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Sport: Alles gegeben

Warum die EM-Fünfte Heike Drechsler sich für nichts rechtfertigen muss – es aber trotzdem tut

Von Frank Bachner

München. Die grauhaarige Dame mit der modischen Brille wartete höflich. Heike Drechsler hatte noch keine Zeit für sie. Drechsler musste an ihrem Bistrotisch noch mit jemandem reden. Aber irgendwann war sie fertig, und dann streckte die ältere Frau freudestrahlend ihre Hand aus und verkündete: „Ich bin ein großer Fan von Ihnen, Frau Drechsler, und ich möchte Ihnen sagen, dass Sie zufrieden sein können.“ Heike Drechsler erhob sich von ihrem Stuhl und antwortete lächelnd: „Das freut mich, vielen Dank.“ Sie war ein paar Stunden zuvor bei der Leichtathletik-Europameisterschaft Fünfte im Weitsprung geworden, ihr weitester Sprung endete bei 6,64 Meter, und jetzt, kurz vor Mitternacht, saß sie im Deutschen Haus, dem Treffpunkt von Journalisten, Sportlern und Funktionären, und hörte dort viele derartige Sätze.

Es hatte ja jeder gesehen, dass sie alles gegeben hatte. Als der Regen fiel und der Wind noch während des Anlaufs häufig wechselte. „So schlechte Bedingungen wie bei der Qualifikation und im Finale habe ich in den letzten 20 Jahren nicht erlebt“, sagte Heike Drechsler. Gab es, Frau Drechsler, überhaupt jemanden, der sagte, Sie hätten hier bei der Europameisterschaft enttäuscht? „Ja, die Bild-Zeitung. Aber da steht man drüber.“ Eigentlich kommt ja keine andere Reaktion in Frage. Heike Drechsler ist zweimalige Olympiasiegerin, sie ist zweimalige Weltmeisterin, sie ist viermalige Europameisterin, es gibt keine bessere Bilanz, um überzeugender zu reagieren. Aber Heike Drechsler ist nicht souverän. Heike Drechsler hat das Gefühl, sie müsse sich verteidigen gegen Vorwürfe, die nur sie heraushört.

Selbstverständlich ist die 37-Jährige enttäuscht, sie wollte eine Medaille, sie ist vor wenigen Wochen 6,85 Meter gesprungen. Aber Heike Drechsler redet an diesem Abend nicht bloß über einen verlorenen Wettkampf, sie hält ein Plädoyer, als müsste sie ein Gesamtkunstwerk verteidigen. „Jeder hat gesehen, dass ich gekämpft habe“, sagt sie. Und dann platzt ihr dreimal in fünf Minuten dieser Satz heraus: „Ich habe mein Gesicht gewahrt.“ Heike Drechsler hat ihr Gesicht gewahrt. Das ist ihr ganz wichtig. Das ist offenbar sogar das Wichtigste. Und das ist der Maßstab, an dem sich Heike Drechsler misst.

Aber damit steht sie allein. Kein halbwegs vernünftiger Journalist und kein halbwegs intelligenter Fan denkt ähnlich. Aber dieser Maßstab ist auch Beleg dafür, wie sehr die 37-Jährige gegen das Klischee der Sport-Oma ankämpft. Es ist ein verbissener und letztlich erfolgloser Kampf, weil Siege für die Olympiasiegerin lediglich Pflichterfüllungen sind, über die sie sich vermutlich nie richtig ausgelassen freuen kann. Wirklich heftige Emotionen lösen nur Niederlagen aus. Die stellen die Person Heike Drechsler in Frage. „Ihre Kommentare zum Weitsprung haben schon ein bisschen nach Rechtfertigung ausgesehen“, sagt Jörg Neblung vorsichtig. Er hat sie im Fernsehen verfolgt. Und er muss mit solchen Aussagen vorsichtig sein, immerhin ist Jörg Neblung Heike Drechslers Manager.

Aber Heike Drechsler muss sich nicht rechtfertigen. Angesichts ihrer Erfolgs-Bilanz schon überhaupt nicht. Aber auch nicht aufgrund ihres Alters. Christian Schenk, der Zehnkampf-Olympiasieger von 1988, hat sie vor der Europameisterschaft in einem Trainingslager besucht: „Du darfst nicht aufhören. Du hast die ideale Figur für eine Weitspringerin“, hatte er ihr eindringlich gesagt. Es gibt eine lange Liste von Athleten, die im hohen Sportler-Alter noch erfolgreich in der Weltspitze mitmischen. Jonathan Edwards, der Dreisprung-Weltrekordler, ist 36 und bei der Europameisterschaft Goldfavorit. Dieter Baumann, 37, wurde gerade Vize-Europameister über 10 000 Meter. Greg Foster (USA) sprintete als Mittdreißiger mit Weltklassezeiten über die Hürden. Linford Christie (Großbritannien) wurde mit 34 Jahren 100-m-Europameister.

Heike Drechsler will weitermachen. Bis zur WM 2003 in Paris. „Aber dann ist wohl endgültig Schluss“, sagte Heike Drechsler. Sie würde wohl auch nach 2003 noch springen. Aber dann noch das Gesicht zu wahren, das würde immer schwieriger werden.

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