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Die deutschen Goldmedaillengewinner von London haben es geschafft - aber um welchen Preis?

© dpa

Der Körperleser: Bis zur Selbst-Verleugnung

Olympia hat es gezeigt: Sport ist heute eine Hightech-Schlacht. Modernste Materialien in der Sportkleidung, neueste Technologie an den Füßen und beste Ernährung bieten die Länder gegeneinander auf. Die Athleten gehen bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Dass Medaillen trotzdem nicht planbar sind, hat einen Grund.

Stand:

Wer erinnert nicht die Anspannung, die es damals auszuhalten galt. Damals meint: die Entscheidung des 100 m Laufs um die Schulmeisterschaft oder den Kreismeistertitel. Ich erinnere mich noch gut an die Vorbereitungen zu diesem Lauf. Schon ein wenig aufgeregt, die neuen Spikes lässig über die Schultern gehängt, die Sporttasche mit den von der Mutter geschmierten leckeren Schnitten auf den Rasen neben der 100-m-Bahn gepfeffert, beäugte ich die Konkurrenten. Einige trugen zum Glück (noch) keine Spikes. Waren wohl zu teuer. Andere schienen die (mich) entmutigende körperliche Statur zu haben, die den wahren Meister zu kennzeichnen schien. Ich bildete mir das auf jeden Fall so ein, um die nötige Depression der Selbst-Zerfleischung vor einem solchen Wettkampf zu pflegen. Alles nur, um dann, wenn ich später doch nicht unter die ersten Drei gekommen war, vor meinem eigenen inneren Antreiber bestehen zu können. Hatte ich es doch schon zuvor gewusst, diesmal keine Chance zu haben.

Oder aber, im Falle des Sieges, um noch mehr jubeln zu können. Jubeln über dem Sieg im Lauf. Jubeln darüber, meinen inneren Schweinehund besiegt zu haben. Jubeln über die gelungene Selbstmotivation.

Um ehrlich zu sein, so oft durfte ich auch wieder nicht aufs Siegertreppchen.

Bildergalerie: Die Schlussfeier in London

Vielleicht war aber dies gerade die beste Motivation, beim nächsten Mal wieder dabei zu sein. Wieder dabei sein zu können. Ging es mir trotz unbedingten Siegeswillens auch darum, mich stets diesem Nervenkitzel auszusetzen. Um mich zu beweisen. Mich vor mir selbst zu beweisen. Na ja, und um gelegentlich auf dieses Treppchen zu springen.

Jahre später las ich 1984 anlässlich der Olympiade in Los Angeles, dass die deutschen Trainingsbedingungen weltweit als die besten galten. Was konnte da also noch schief gehen? Der ausführliche Spiegelartikel zum Thema lieferte aber auch gleich die brutale Ernüchterung, mehr als 80 % der Athleten waren nämlich verletzt oder befanden sich in der Rehabilitation.

Trainieren wir, so wähnte ich damals spontan, uns zu Tode, oder zumindest bis hin zur Verletzung? Oder fühlten sich die deutschen Athleten trotz Verletzung oder Reha zur Selbst-Verletzung hin getrieben? Zur Selbst-Verleugnung?

Sport sollte doch gut tun, stutzte ich. Auch dem Profisportler. Gerade diesem sollte es doch gut tun. Denn, wenn man sich gut fühlt, bringt man doch einfach mehr. Oder gilt dies nicht für den Profisport? Für Olympia?

Bildergalerie: Die Olympia-Patzer

Vier Jahre später bei der Olympiade in Seoul kam es zum bitteren Eklat. Die Karten der Selbstüberschätzung wurden aufgedeckt. Das deutsche Trainingsgeheimnis ungeschminkt gelüftet. Die ganze Sportwelt wartete damals auf das Duell der 10-Kampf-Giganten. Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem Engländer Daley Thompson und dem Deutschen Jürgen Hingsen. Beide, bestens trainiert und durch diverse Meisterschaftstitel ausgezeichnet, so die Sportauguren, würden sich in Nichts nachstehen. 10-Kampf hieß also: 10 Mal Supersport, Superspannung und Superergebnisse. Bis zum Finale, der Superkrönung in der olympischen Königsdisziplin .

Gastautor Ulrich Sollmann.

© Marc Steffen Unger

Für Hingsen hieß es aber auch Superstress. Und auf diesen war er nun gar nicht mental vorbereitet. Ausgestattet mit den edelsten und effizientesten Startblöcken. Ausgestattet mit den Laufschuhen, die damals wohl dem höchsten technologischen Standard entsprachen. Vorbereitet in und durch beste Trainingsbedingungen. Eben diese international hoch gelobten deutschen Trainingsbedingungen.

Nur, leider scheiterte er daran, dem extremen Stress in einer solchen Situation nicht standhalten zu können. Dreimal Startschuss. Dreimal Fehlstart.

Aus der olympische Traum. Disqualifiziert. In der ersten Disziplin. Bevor es eigentlich losging.

Und nicht nur das. Er scheiterte an der Illusion, seinen Körper wie eine Maschine auf das Finale bei der Olympiade einjustieren zu können.

Durch Hingsen scheiterte auch der deutsche Spitzensport. Dieser propagierte, die durch beste Trainingsbedingungen gestählten Körper der Athleten wie eine am Reißbrett geplante, von Effizienz getriebene Maschine fein justieren zu können.

Bildergalerie: Olympia 2012 - die deutschen Medaillengewinner

Menschen sind aber keine Maschinen. Menschen können sich nicht effizient verhalten. 

Wir schreiben 2012. London. Olympia war gestern. Olympia heute erhitzt in Deutschland die Sport-Gemüter. Was war es denn nun? Was sollte es sein?  Eine Zielvereinbarung über 86 Medaillen oder Ziel bezogene Förderung der Athleten? Warum wurden die Zielvorgaben nur auf enormen Druck hin veröffentlicht? Gab es etwas zu verheimlichen?

Fakt ist: Menschen sind keine Maschinen. Menschliches Verhalten kann nicht effizient sein. Psychischer (Wettkampf-)Stress ist vom Menschen geschaffener Stress. Top-fit zu sein und diesen Stress zu meistern, ist die wahre Kunst im Sport.

Sportler sind eben auch Menschen.

Die Psychologie hat für diese Kunst (und dabei ist nicht nur der Sport gemeint) einen mystisch anmutenden Begriff gefunden, nämlich den der Ambiguitätstoleranz. Hierunter versteht man die Kunst, Spannungen in der Schwebe zu halten. Die Spannung zwischen Zahlen und menschlichem Verhalten. Die Spannung zwischen dem durchtrainierten Körper und mentaler, emotionaler Sicherheit unter höchster Belastung. Die Spannung zwischen vorgegebenen Zielen und Selbst-Motivation.

Die Spannung zwischen der Verbindlichkeit von Zielen und der Vorgabe von Spannungsfeldern.

Ulrich Sollmann ist Psychologe und Coach und bloggt zum Thema Körpersprache (www.body-languages.net).

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