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Das Khalifa International Stadion in Doha. Hier werden die WM-Spiele ausgetragen.

© IMAGO/Xinhua

Die Deutschen und die Fußball-WM: Der Umgang mit Katar ist scheinheilig

Der Westen ignoriert die Kultur des WM-Ausrichterlandes. Dabei wird der Sport missbraucht, um sich selbst zu profilieren. Mit welchem Recht?

Ein Kommentar von Jürgen Hogrefe

Jürgen Hogrefe ist Mitglied des Präsidiums der Arabisch-Deutschen Handelskammer Ghorfa. Zwischen 1993 und 1999 war er Nah- und Mittelost-Korrespondent des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“. Für den Tagesspiegel hat er diesen Gastbeitrag verfasst.

Ihr Urteil über dieses Land stand schon fest, bevor die deutsche Innenministerin Nancy Faeser am Montag erstmals nach Doha flog: Es wäre besser, wenn eine Fußball-WM „nicht in solche Staaten vergeben wird“. Hochtönend belehrte sie noch aus dem fernen Berlin ihren katarischen Kollegen über die Menschenrechte. Worüber soll man mehr staunen? Über ihre Instinktlosigkeit, ihre Herablassung, über ihr mangelndes Vermögen, sich in andere Kulturen und Traditionen hineinzudenken oder über ihre mangelnden Kenntnisse der wahren Situation vor Ort?

Wahrscheinlich Letzteres. Denn das Ausmaß der verdrehten Berichterstattung über Katar und die Diffamierung seiner Bewohner und seiner Regierung hat längst einen kampagnenartigen Charakter angenommen, in dem die Fakten unter die Räder gekommen sind.

Begonnen hatte alles mit einem Bericht des britischen „Guardian“ über angeblich 6500 tote Gastarbeiter seit der Vergabe der WM an Katar. In deutschen Medien wurde schnell von „Tausenden von Toten auf den WM-Baustellen in Katar“ berichtet. Schnell sprangen einschlägige Nichtregierungsorganisationen auf das Thema an. Doch wie steht es um die Fakten? Bestätigt ist die Zahl von 35 „nicht arbeitsbedingten Todesfällen“ auf den Stadion-Baustellen in Katar. Das sind 35 zu viel und jeder Tod ist bedauerlich. Aber sie liegt weit entfernt von den „15.021 Toten“, mit denen Amnesty International und andere in ihrer Nachrichtengebung operieren.

Die natürliche Sterberate in Katar liegt unter der deutschen Sterberate

Was hat es mit dieser Zahl auf sich? Sie stammt von den Behörden in Katar. 15.021 Tote hat es in der Tat unter der ausländischen Bevölkerung Katars gegeben, seit die Wahl auf Katar als WM-Austragungsort fiel. Insofern eine anerkannte Zahl. Nur sollte man die in das richtige Verhältnis setzen.

Katar selbst hat nur etwa 300.000 eingeborene Einwohner. Die übrigen rund drei Millionen kamen und kommen aus vielen Ländern rund um den Globus, zumeist als Wanderarbeiter. Wohl rund zwei Millionen Menschen davon kommen traditionell aus ostasiatischen Ländern wie Indien, Nepal und den Philippinen. Von diesen mehreren Millionen Menschen sind über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren 15.021 Menschen gestorben. Damit relativiert sich die ungeheure Zahl von 15.021 auf ein normales Maß – und sogar darunter. Die natürliche Sterberate in Katar liegt beispielsweise unter der deutschen Sterberate.

Das Ausmaß der verdrehten Berichterstattung über Katar hat längst einen kampagnenartigen Charakter angenommen.

Jürgen Hogrefe

Jetzt argumentierten Amnesty und andere Organisationen, es sei nicht auszuschließen, dass diese 15.021 Menschen an den Folgen der unmenschlichen Arbeitsbedingungen gestorben seien. Das ist – mit Verlaub – nur wenig lauter. Einen Nachweis, dass die Todesfälle in einem direkten Zusammenhang mit den Arbeitsverhältnissen stehen, gibt es nicht. Das muss auch Amnesty eingestehen.

Nancy Faeser hat Katar besucht und wird zum ersten Spiel der deutschen Nationalelf wiederkehren. 
Nancy Faeser hat Katar besucht und wird zum ersten Spiel der deutschen Nationalelf wiederkehren. 

© dpa/ Pedersen

Bevor jetzt bei einigen eine Schnappatmung einsetzt: Unbestreitbar waren und sind Arbeitsverhältnisse in Katar teilweise schwer erträglich und mussten und müssen weiterhin dringend reformiert werden. Es gibt Vollzugdefizite bei der Umsetzung von Arbeitsgesetzen und -rechten. Ja. Es gab und gibt private Unternehmen, die die gesetzlichen Vorschriften der katarischen Regierung unterlaufen. Darunter waren übrigens auch deutsche Unternehmen. Und es gibt kriminelle Arbeitsvermittler, die gerade im extrem dubiosen globalen Arbeitsmarkt die schwierigen und oft unkontrollierbaren Verhältnisse zu Lasten der Wanderarbeiter ausnutzen.

Woher stammt eigentlich unsere Überheblichkeit?

Dass die Kataris sich seit 2008 selbst die Aufgabe gestellt haben, die Situation der ausländischen Arbeiter im Lande zu verbessern und dabei bereits erfolgreich waren, bestätigte jüngst auch Dietmar Schäfers. Der Vizepräsident der Gewerkschaftsföderation Bau- und Holzarbeiter Internationale BHI erklärte, „dass die Verhältnisse in Bezug auf Arbeits- und Gesundheitsschutz vergleichbar mit dem deutschen oder US-amerikanischen Standard sind“.

Ja, es gibt ein Vollzugsdefizit. Das beklagen und bedauern auch die katarischen Behörden. Das sollten wir in der EU ähnlich handhaben. In Europa gibt es nach EU-Erhebungen rund eine halbe Million moderne Arbeitssklaven. Darunter osteuropäische Ausbeiner in Schlachthöfen oder illegale afrikanische Tomatenpflücker in Spanien.

Man stelle sich vor: eine Fußball-Weltmeisterschaft findet in einem Land statt, in dem eine Frau verpflichtet ist, den Haushalt zu führen und die Erlaubnis ihres Mannes braucht, um arbeiten zu gehen. Wo Abtreibung bei Strafe verboten ist. Wovon sprechen wir? Genau. Von Deutschland, das im Jahr 1974 die Fußball-Weltmeisterschaft ausrichtete.

Woher stammt eigentlich unsere Überheblichkeit? Und die Maßlosigkeit? Weswegen müssen wir unablässig Leuten aus anderen Ländern und Kulturen vorschreiben, was sie zu tun haben? Wo bleibt die viel beschworene Empathie?

Sport soll, wenn es gelingt, die Völker verbinden. Gegenwärtig kann man den Eindruck gewinnen, dass das Interesse und die Freude am Sport gelegentlich missbraucht werden, um sich selbst zu profilieren und um eigenes Interesse durchzusetzen. Nancy Faeser schlug am Dienstag in Katar diplomatischere Töne an. Sie will sogar ein Spiel der deutschen Mannschaft bei der WM besuchen. Vielleicht, weil es immer eine gute Idee ist, miteinander und nicht übereinander zu reden und sich vor Ort selbst ein Bild zu machen?

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