Sport: Ein Rennen für das Boot
Heute startet das legendäre Ruder-Duell zwischen Oxford und Cambridge – mit vier Deutschen
Für die Auserwählten von Cambridge waren die vergangenen sechs Monate eine einzige Schinderei. Sechs Uhr morgens das erste Training auf dem kalten Wasser der Themse. Rudern mit klammen Fingern. Danach duschen und zur Uni in Cambridge. 13.30 Uhr die nächste Trainingseinheit in Ely, 40 Autominuten von der Uni entfernt. Dort ist der Fluss etwas ruhiger und schlängelt sich nur in ein paar Kurven seiner Mündung entgegen. Anschließend Videoanalyse, Gespräche. 18 Uhr endlich auf dem eigenen Zimmer. Essen, 30 Minuten Schlaf, Vorlesungen nacharbeiten, schlafen, aufstehen, trainieren. Immer wieder das gleiche Ritual. Sechs Monate Plackerei für das große Ziel: die Jungs aus Oxford im weltweit bekanntesten Ruder-Klassiker zu schlagen.
Bernd Heidicker aus Herne hat die ganze Prozedur mitgemacht. Seit vergangenem Herbst studiert der deutsche Nationalmannschafts-Ruderer in Cambridge. Am Ostersonntag will Heidicker den Cambridge-Achter als Schlagmann zum 79. Sieg im 151. Rennen führen. Mit ihm sitzen noch drei weitere Deutsche im Boot: Sebastian Schulte aus Wiesbaden, Matthias Kleinz aus Limburg und der Berliner Steffen Buschbacher.
Das diesjährige Rennen könnte eines der spannendsten in der 176-jährigen Geschichte des Duells werden. „Im Cambridge-Achter sitzen vier, im Oxford-Achter drei Olympia-Teilnehmer“, sagt Heidicker. „Das ist schon ein gutes Niveau.“ Mit leichten Vorteilen für Cambridge. Das hat sich auch in einigen Trainingswettkämpfen gezeigt. Da besiegten die Cambridge-Studenten den niederländischen und den deutschen Achter.
Eigentlich ist der 26-jährige Heidicker in erster Linie wegen des Studiums nach Cambridge gegangen. Aber natürlich dachte er bei der Entscheidung auch an das legendäre Achter-Rennen. „Ich war sicher kein Paradestudent“, sagt er. Aber im Interview, zu dem er eingeladen wurde, konnte er punkten. „Da war keine Rede vom Rudern. Das war komplett außen vor.“ Als die Aufnahmebestätigung kam, hat sich Heidicker am meisten darüber gefreut, dass er seinen Wirtschaftsabschluss an einer renommierten Universität machen kann. „Aber das Rennen ist natürlich auch eine Wahnsinnssache“, sagt Heidicker, der schon Maschinenbau studiert hat. Seit Wochen werde seine Mannschaft von einem Kamerateam begleitet. Zeitungen, Radiosender und Magazine fragen nach Interviews. Auch viele deutsche Medien seien aufmerksam geworden. „Selbst als Olympiasieger hätte ich wohl nicht so viele Anfragen“, sagt Heidicker. Und er ist immerhin 2002 Weltmeister im Vierer ohne Steuermann geworden und startete zweimal bei Olympischen Spielen. 2004, in Athen, schied er mit dem Vierer ohne Steuermann im Halbfinale aus.
Das Bootsrennen ist ein faszinierendes Ereignis. Seit 1829 duellieren sich die elitären englischen Hochschulen auf dem Wasser. Damals forderte ein Student der einen Uni seinen früheren Schulkollegen, der an der anderen Hochschule studierte, zum Vergleichswettkampf heraus. Eine Tradition, die sich bis heute gehalten hat. Denn der Verlierer muss den Sieger im kommenden Jahr zur Revanche auffordern. Heute verfolgen bis zu 250 000 Menschen in London das Rennen an den Ufern der Themse. Das Fernsehen überträgt live. Im vergangenen Jahr erlebten bis zu 400 Millionen TV-Zuschauer in 180 Ländern die Jubiläumsauflage des Rennens.
Auch für erfahrene Ruderer wie Heidicker und Schulte wird das Duell ein besonderes Erlebnis. Zumal die Bedingungen mit einem olympischen Finale nicht vergleichbar sind. „Es wird ein sehr viel chaotischeres Rennen als bei Olympischen Spielen“, sagt Heidicker. Anders als die olympische Regatta-Strecke mit ihren sechs glatten, abgetrennten Bahnen ist die Themse ein „wilder Fluss“ mit starken Strömungen. Es kann zu Kollisionen kommen. Mehrfach in der Geschichte des Rennens sind Boote gekentert. „Das Renen wird immer gefahren. Da kann alles passieren“, sagt Heidicker. Wenn der Wind kräftig gegen die Strömung bläst, türmt er hohe Wellen auf, wobei das Wasser ins Boot fließt. Deshalb dürfen die Achter auch Pumpen an Bord haben. Auch sonst gibt es Unterschiede zu üblichen Regatten. Etwa im Training. „Das hier ist nicht mit dem deutschen System vergleichbar“, sagt Heidicker. Während er in Deutschland sein Training häufig individuell gestaltete, läuft auf der Insel alles mit der Mannschaft ab. „Teamspirit wird hier ganz groß geschrieben.“ Genauso wie die Tradition. Denn auch die Geschichte des Rennens ist Teil der Einstimmung auf das Duell. Zur Motivation kamen nach einigen Trainingseinheiten sogar ehemalige Cambridge-Ruderer und erinnerten sich vor den diesjährigen Wettkämpfern an die „beste Zeit“ ihres Lebens. Für einige seiner britischen Bootskollegen sei das Rennen sogar wichtiger als das Studium, sagt Heidicker. „Die nehmen durchaus schlechtere Noten in Kauf, um einmal dabei zu sein.“ Für Heidicker ist es ein weiteres großes Rennen in seinem sportlichen Leben.
Das Rennen ist nicht nur für die Studenten eine besondere Herausforderung: Während der deutsche Bundestrainer seine Ruderer meist seit Jahren kennt und über Daten aus dem Jugendkader verfüge, wisse der Trainer des Uni-Achters zu Beginn des Semesters so gut wie nichts über seine Athleten, sagt Heidicker. „Trotzdem muss er in sechs Monaten eine Mannschaft formen.“ Deshalb auch die extreme Schinderei mit vielen Vergleichswettkämpfen. Erst Anfang Februar wurde die endgültige Besetzung der Bootsmannschaft festgelegt.
Die „Lightblues“, so heißen die Ruderer von Cambridge, und die „Darkblues“, das ist der Name der Gegner aus Oxford, werden um die Ehre einer ganzen Hochschule kämpfen. Beide Seiten werden im Rennen bis an ihre Grenzen gehen. „Denn“, sagt Heidicker, „dieses Boot gibt es nur, weil es das Rennen gibt.“
Jürgen Bröker[London]