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Sport: Gold wird Silber

Wie nach der Ehrenrunde aus einem Sieger ein Zweiter wurde

München. Die Zuschauer feierten beide. Sie gingen davon aus, dass beide Läufer gleichzeitig über die Ziellinie gestürmt waren, das Rennen also, wie es in der Leichtathletik heißt, ein totes Rennen war. Im 1500-m-Finale hatten der Franzose Mehdi Baala und der Spanier Reyes Estevez zeitgleich nach 3:45,25 Minuten das Ziel erreicht. Wer hatte gewonnen?

Unruhig liefen die beiden im Zielauslauf hin und her. Es dauerte einige Minuten, dann zeigte der Ergebniscomputer zwei erste Plätze an. Das hätte bedeutet, über 1500 m hätte es zwei Gold-, keine Silber- aber eine Bronzemedaille gegeben. Es dauerte nicht lange, dann hatte diese Information auch die beiden Athleten erreicht: Baala und Estevez gingen gemeinsam auf die Ehrenrunde, die Zuschauer waren zufrieden mit der Entscheidung.

Doch nach der Ehrenrunde gab es plötzlich ein anderes Ergebnis. So lange hatte es offenbar gedauert, bis die Jury das Zielfoto, das bei knappen Rennen entscheidet, ausgewertet hatte. Nun hieß der Sieger Mehdi Baala mit einem Vorsprung von zwei Tausendstelsekunden. Die Fotos, die die Bildjournalisten während der Ehrenrunde schossen, dokumentieren somit nur noch eine voreilige Entscheidung. Die Zuschauer pfiffen, weil sie lieber zwei Sieger gesehen hätten.

Die Leichtathletik hat, im Gegensatz beispielsweise zum Eiskunstlaufen, den Vorteil, dass sie messbar ist. Manchmal geht es dabei um ein paar Tausendstelsekunden. Leidtragende gleich mehrerer knapper Entscheidungen war in der Vergangenheit die jamaikanische Sprinterin Merlene Ottey. Vor neun Jahren bei der WM in Stuttgart verpasste sie das 100-m-Gold nur um eine Tausendstelsekunde. Auf dem Zielfoto war zu erkennen, dass die Siegerin Gail Devers (USA) mit der rechten Schulter knapp vor Ottey war.

Die vielleicht tragischste Zielfoto-Entscheidung der Leichtathletik-Geschichte fiel jedoch bei der Weltmeisterschaft 1991 in Tokio. Bei saunaähnlichen Temperaturen lagen im 50-km-Gehen kurz vor dem Ziel die beiden Russen Aleksander Potaschow und Andrej Perlow gleichauf. Seit 16 Jahren befreundet, beschlossen sie, gemeinsam ins Ziel zu gehen. „50 Meter vor dem Ziel dachten wir, es wäre besser, nicht mehr gegeneinander zu kämpfen“, erklärte Perlow. Arm in Arm gingen sie über die Ziellinie. Das Wettkampfgericht ignorierte die Gefühle der Athleten und wertete das Zielfoto aus: Potaschow hatte demzufolge einen Vorsprung von einer Hundertstelsekunde und bekam Gold.

Ein totes Rennen gab es auch vor drei Jahren bei der Weltmeisterschaft in Sevilla über 200 m der Frauen. Nach einem Protest der deutschen Mannschaft und einer weiteren Studie des Zielfotos wurde Andrea Philipp nachträglich eine Bronzemedaille überreicht. Jörg Wenig

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