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Sport: Gras der Zukunft

Immer mehr Stadien werden mit Kunstrasen ausgerüstet – bald könnten dort auch Champions-League-Spiele ausgetragen werden

Berlin - Nirgendwo sonst ist der Kunstrasenplatz schon so verbreitet wie auf den über 1000 Spielfeldern in Berlin. Mittlerweile, so weist es die jüngste Sportstättenstatistik aus, ist der Anteil an Belägen mit Kunstrasen in der Hauptstadt fast so hoch wie der mit Naturrasen oder Asche. Aus Sicht des Fußball-Weltverbandes Fifa ein vorbildlicher Trend. „Kunstrasen ist die Spielfeldfläche der Zukunft“, sagt Fifa-Sprecher Andreas Herren. Mittlerweile unterhält die Fifa eine eigene Abteilung, die sich allein mit den Anforderungen und der Verbreitung von Kunstrasen beschäftigt. Aus gutem Grund, wie Herren weiß: „In vielen Regionen dieser Welt ist es für Naturrasen zu heiß, zu kalt, zu trocken oder zu nass.“ Um also das Spiel zu entwickeln, müssten vermehrt Spielmöglichkeiten geschaffen werden.

Und da bieten neueste Entwicklungen ungeahnte Möglichkeiten. Was Ende der 60er-Jahre in den USA für American Football mit knallharten Belägen begann, ist heute ein Kunstprodukt in der dritten Generation, vom normalen Grün auch optisch kaum noch zu unterscheiden. Ob an der Säbener Straße in München, neben der Arena Auf Schalke in Gelsenkirchen oder in Berlin, Leverkusen und Kaiserslautern: Die Bundesliga-Elite hat sich zu Trainings- und Testzwecken längst die rund eine halbe Million teuren Luxusfelder zugelegt. Der Trick: Zwischen die etwa fünf Zentimeter langen Polypropylen-Fasern wird leichtes Gummigranulat eingefüllt, darunter liegt eine elastische Schicht. Derart ausgerüstete Spielflächen – so behaupten Hersteller wie Polytan, die jährlich 70 bis 80 solcher Felder in Deutschland bauen – bedürfen nur eines geringen Pflegeaufwandes und keiner Bewässerung. Sie halten mindestens zehn Jahre und sind sowohl in Finnland als auch in Burkina Faso einsetzbar. Vorbei die Zeiten, in denen auf bürstenähnlichen Teppichböden oder mit Sand verfüllten Faserbelägen gespielt wurde – auf Flächen, die alsbald verfallen und verflachen und auf denen jeder Grätsche schmerzhafte Brandblasen folgen.

Auch der DFB hat längst eine Arbeitsgruppe eingesetzt, welche die Spiel- und Einsatzmöglichkeiten des neuen Belags untersucht, doch „unser Leidensdruck ist nicht so hoch“, sagt Willi Hink, Leiter des Spielbetriebs beim DFB. „Wir geben einem Kunstrasen immer den Vorzug vor einem Hartplatz oder schlechten Rasenplatz.“ Für die Bundesliga teilt Hink indes die Sorge vieler Manager von Rudi Assauer bis Dieter Hoeneß, dass „der Fußball seinen Charakter verändert“. Auf Amateurebene wird sich in Deutschland Kunstrasen wohl weiter verbreiten, bei den Profis noch nicht.

Doch der Plastikplatz wird schon bald Europa erobern. Die Europäische Fußball-Union Uefa testet in einem Pilotprojekt seit Sommer 2003 Kunstrasenflächen in sechs Stadien, auch in Moskau und Salzburg. Die WM der unter 17-Jährigen in Finnland hat bereits auf Kunstrasen stattgefunden, in Italien ist die halbe vierte Liga damit ausgestattet, und auch im Mailänder Meazza-Stadion, der Spielstätte von Milan und Inter, ist der Einbau einer widerstandsfähigen Spielfläche nur noch eine Frage der Zeit. Denn die Architektur vieler Stadien lässt weder genug Licht noch Luft an das natürliche Grün. Arenen wie in Hamburg, Dortmund oder Amsterdam, wo dreimal im Jahr jedes Mal der strapazierte Rasen aufwändig ausgetauscht werden muss, scheinen prädestiniert für eine Umrüstung. Schon ab der kommenden Saison erlaubt die Uefa die Austragung von Spielen in der Champions League, sogar bei Qualifikationsspielen zu Europa- und Weltmeisterschaften. Uefa-Experte Rolf Hediger glaubt, dass „bald bis zu 15 Stadien in der Champions League damit ausgestattet sind“.

Ein Segen? Die Aktiven von Spartak Moskau hegten bereits den Wunsch, der Plastikrasen möge doch bitte wieder nach Gras riechen. Thomas Häßler, bei Austria Salzburg aktiv, klagte: „Bei uns springt und läuft der Ball anders – fast wie beim Hallenfußball.“ Immerhin: Keine der Studien weist bislang auf ein höheres Verletzungsrisiko hin.

Experten der Fifa und Uefa wollen sich bis zum Frühjahr dieses Jahres auf einheitlich hohe Qualitäts- und Testkriterien einigen. Hinter den Kulissen geht es ums Geld. Denn das Gütesiegel der Fifa gibt es nicht geschenkt: 150 000 Franken muss ein Hersteller im Jahr für die Lizenz berappen. „Gern machen wir das nicht“, sagt Hans-Jörg Russland vom Hersteller Polytan.

Nicht nur die Lizenzgebühren sind es, die den Fußball-Weltverband aufs Tempo drücken lässt. Im Hinblick auf die übernächste Weltmeisterschaft – 2010 in Südafrika – ist es tatsächlich sinnvoll, über die Zulassung der neuen Felder nachzudenken. Denn aus heutiger Sicht wäre diese Kunstrasengeneration den dortigen ausgetrockneten Rasenböden schon jetzt weit überlegen. Und dem Argument von Bundesumweltminister Jürgen Trittin, doch bitte nicht das letzte Stück Natur aus den Stadien zu verbannen, tritt der Kunstrasen-Lobbyist Hans-Jörg Russland entgegen: „Ein Naturrasen ist doch kein Biotop, sondern eine technisch bearbeitete Fläche, die mit Dünger und Pestiziden belastet ist. Auch da gedeihen heute keine Kräuter mehr, und da überlebt kein Regenwurm.“

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