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Sport: Romantiker auf dem Rad

Blütenduft und Frühlingsgefühle: Warum die Fahrer vom Klassiker Mailand – San Remo schwärmen

Stand:

Kribbelt’s wieder? Erik Zabels große Liebe währt nun schon 15 Jahre. „La Classicissima“ heißt sie und wird heute hundert. Hundert Jahre Mailand – San Remo! Welcher Liebhaber des ersten Frühjahrsklassikers bekommt da nicht immer noch „dieses Gefühl, das nur nachempfinden kann, wer es selber schon einmal erlebt hat“, wie Zabel einmal sagte. „Jedes Mal am Start spüre ich ein ganz besonderes Kribbeln.“ Der 36 Jahre alte San-RemoRomantiker denkt, dass es auch bei seinem 15. Start nicht anders sein wird, bei dem es 294 Kilometer und sechs bis sieben Stunden Richtung Süden geht.

Es ist die Fahrt ins Blaue und ins Laue, der Ausflug auf dem Rennrad in den Frühling mit dem Duft von Blüten und Meer nach dem harten Wintertraining, dem Mailand – San Remo im Lauf seiner nunmehr hundertjährigen Geschichte diese verklärte Romantik verdankt. „Das hat was“, sagt Zabel, der mit vier Siegen und zwei zweiten Plätzen nach Eddy Merckx (7 Siege) der größte Protagonist in der Nachkriegsmoderne dieses Rennens ist.

Als Mario Cipollini mit 35 Jahren erstmals „La Primavera“ gewonnen hatte, schwärmte Italiens Radstar: „Ich fühlte mich, als beginne das Leben neu.“ Von Rudi Altig, dem ersten Deutschen, der 1968 der Schnellste auf der Via Roma in San Remo war, stammt die Huldigung: „Mailand – San Remo gewinnen und das Rad verschrotten.“

Schon als der Italiener Costante Girardengo zwischen 1918 und 1928 sechs- mal gewann, soll das besondere Flair den Abenteurern über die noch unwegsamen Schotterstraßen hinweggeholfen haben. Wie schon in der Historie der Tour de France vor dem Ersten Weltkrieg lieferte der Franzose Eugene Christophe auch in der Geschichte von Mailand – San Remo das bekannteste Heldenstück: Im dichten Schneetreiben auf dem Turchino Pass musste er absteigen und Rast in einem Gasthaus machen. Der Wirt riet ihm ab weiterzufahren, um seine Gesundheit nicht zu riskieren. Der Franzose hörte nicht auf den Rat, schwang sich im Schneegestöber wieder aufs Rad und siegte mit einer Stunde Vorsprung – dank der aufkommenden Frühlingsgefühle auf der ligurischen Küstenstraße, heißt es in den Annalen. Das war 1910. Drei Jahre später machte Christophe Radsportgeschichte, als er in einer Dorfschmiede in den Pyrenäen eigenhändig die gebrochene Gabel seines Rades reparierte.

Mit dem Straßenbelag hat sich die Geschwindigkeit geändert: Der erste Sieger von Mailand – San Remo, der Franzose Lucien Petit-Breton, schaffte 1907 die 281 Kilometer in elf Stunden und vier Minuten. Durchschnittstempo: 26,6 Stundenkilometer. Der Vorjahressieger Filippo Pozzato siegte nach 294 Kilometern und 6:29:41 Stunden (47,27 Stundenkilometer). Der Italiener hatte die Favoriten Alessandro Petacchi (Zweiter) und Erik Zabel aus dem neuen Team Milram überrumpelt. Das soll den beiden Sprintstars bei der 98. Auflage so nicht wieder passieren. Zabel sagt: „Alessandro und ich sprechen uns unterwegs ab. Wer die stärkeren Beine hat, für den wird am Ende gesprintet.“

Der 20-jährige U-23-Weltmeister Gerald Ciolek (T-Mobile) aus Pulheim wäre bei seinem ersten Auftritt „schon zufrieden, wenn ich diese lange Distanz überhaupt durchstehe“. Wie Erik Zabel 1993 bei seinem Debüt. Da fuhr er als Dreiundneunzigster über die Ziellinie.

Hartmut Scherzer[Mailand]

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