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Viel mehr als ein Tischtennisprofi: Timo Boll und seine Liebe zum Spiel
Er hat allen gezeigt, dass man auch als bodenständiger Mensch die Nummer eins in einem Weltsport werden kann. Mit Timo Boll verlässt jemand die internationale Tischtennis-Bühne, der seinen Sport überstrahlt hat.

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Als sein letzter Schlag, ein Vorhand-Topspin, neben dem Tisch landete, stand kurz die Zeit still. Konnte das wirklich der Abschiedsballwechsel von Timo Boll als Nationalspieler sein? Bei Olympia in Paris sind die Mannschaftsmedaillen noch gar nicht vergeben, und er hat doch immer eine gewonnen, solange es diesen Wettbewerb bei Olympia gibt. Jetzt soll Schluss sein, nach einer Viertelfinalniederlage gegen Schweden?
Eigentlich hatte Boll alle gut darauf vorbereitet und schon vor Monaten angekündigt, dass seine internationale Karriere bei den Spielen in Paris endet. Mit 43 hat er auch viel länger durchgehalten als die meisten anderen. Aber kann man sich auf seinen Abschied wirklich vorbereiten? Boll gehört einfach dazu. Zur Nationalmannschaft. Zum Tischtennis. Zum ewigen Duell mit der Übermacht China. Zum Sport insgesamt.
Wie er spielt und wer er ist, davon gibt es so viele Bilder, angefangen von den Videos aus dem holzverkleideten Hobbykeller im Odenwald, in denen er als Vierjähriger am Ende des Ballwechsels den Schläger mit beiden Händen halten muss, weil er ihm zu schwer geworden ist.
Am Dienstagabend in Paris erhob sich die ganze Halle für ihn und rief seinen Namen. Das Publikum wird dabei nicht an vier olympische Medaillen gedacht haben, nicht an die mehrfach eroberte Nummer eins der Weltrangliste, nicht an WM-Medaillen und EM-Titel.
Hier hat eben kein Medaillensammler aufgehört, kein Dominator seiner Sportart. Es geht nicht um Rekorde und Zahlen und Titel, und ob es am Ende eine Olympiamedaille mehr oder weniger geworden wäre, hätte auch keinen großen Unterschied gemacht. Warum sich alle erhoben haben, ist, dass hier ein feiner und fairer Mensch die ganz große Bühne als Spieler verlässt.
Tischtennis ist wie eine große Liebe und die betrügt man nicht.
Timo Boll, als er zum Doping befragt wurde
Seine Tränen zum Abschied in der Halle zeigen, was ihm das alles bedeutet – seine Mitspieler, sein Sport, in den er sich so leidenschaftlich hineinvertieft hat. Seine Tränen erinnern auch an einen Satz von ihm. „Tischtennis ist wie eine große Liebe und die betrügt man nicht.“ Das hat er einmal gesagt, als er zum Doping befragt wurde.

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Es ist nicht mal vermessen, dass es mit das Schönste ist, was ein Sportler überhaupt sagen kann über das, was er tut. Weil es zeigt, dass es eine Herzenssache ist und Sportler nicht nur ein Beruf. Tischtennisprofi ist nicht das erste Wort, das einem zu Timo Boll einfällt.
Auch in der Niederlage ist Boll mit sich im Reinen
Gibt es einen Moment in seiner Karriere, der symbolisch für alles steht, in dem sich alles verdichtet? Für viele Weggefährten wie für Zuschauende werden es zunächst persönliche Begegnungen mit ihm sein, denn bei aller Introvertiertheit, bei allem Auch-mal-für-sich-sein-Wollen, hat er sich für andere Zeit genommen, nachgefragt, aufmerksam zugehört und sein Erstaunen mit hochgezogener Augenbraue ausgedrückt.
Er hat andere überrascht mit seinem vorsichtigen Humor. Seine Persönlichkeit schillert. Die Chinesen haben in ihm eine sportliche Herausforderung gefunden und er in China eine persönliche. Von China und seinen Menschen hat er andere Seiten von sich herauskitzeln lassen, die neugierige, die aufgeschlossene, die abenteuerlustige.
Sicher gibt es Momente seiner Karriere, die vielen auf einmal einfallen. Der zurückgegebene Punkt bei der Tischtennis-WM 2005 in Schanghai gegen Liu Guozheng bei knappstem Spielstand auf dem Weg zu seiner ersten WM-Einzelmedaille. Da waren seine Liebe zum Spiel und der Respekt für den Gegner größer als der Antrieb, unbedingt gewinnen zu wollen.
Und es war vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der Boll den Punkt zurückgab, die diese Situation so heraushebt. Mit sich im Reinen sein, auch in der Niederlage, das gehört zu seinen außergewöhnlichen Talenten, mindestens ebenso wie seine Antizipation, seine Fähigkeit, motorisch unglaublich schnell zu lernen, sein Spiel und seine Technik immer weiter entwickeln zu können.
Der größte Respekt für den Gegner
Die Freude über die Olympia-Mannschaftsmedaille in Peking 2008 ragt ebenfalls heraus. Weil Boll eben auch ein Mannschaftsspieler ist. Und er sich mit anderen so wunderbar freuen kann. Doch zu den symbolischen Momenten seiner Karriere zählt im Grunde auch dies: jeder einzelne wertschätzende Blick, mit dem er nach einem Spiel, egal ob gewonnen oder verloren, seinen Gegner anschaut.
Daraus ist schon zu Spielzeiten Bolls Vermächtnis geworden: Am Ende kommen nicht nur die Schlitzohren durch, die den Gegner anbrüllen, ihn mit Trash-Talk überziehen und das taktische Foul für eine Meisterleistung halten. Boll hat allen gezeigt: Ja, man kann auch als bodenständiger, anständiger Mensch die Nummer eins in einem Weltsport werden.
Dieses Vermächtnis gehört zu den tröstenden Begleitumständen seines Abschieds. Es gibt zum Glück noch mehr: dass er noch ein Jahr in der Bundesliga mit Borussia Düsseldorf spielt. Oder dass er danach nicht aus der Welt sein muss, was zwei Anwesende in Paris in der Halle auch gezeigt haben: Dirk Nowitzki und Jörgen Persson.
Nowitzki ist Sportler geblieben, ohne in der NBA zu spielen. Er feiert nun seine Liebe zum Sport, indem er mal hierhin geht und mal dahin, bei den Special Olympics World Games bei der Eröffnungsfeier die Flamme trägt oder eben mit den Sportlern Zeit verbringt, die seine Leidenschaft teilen. Dazu gehört auch Boll. Es ist kein Zufall, dass die beiden eng befreundet sind und zu dem sehr kleinen Kreis an Vorbildern gehören, die die Fahne der deutschen Olympiamannschaft bei der Eröffnungsfeier tragen durften.
Der schwedische Weltmeister Jörgen Persson hat als Trainer seiner Nationalmannschaft weitergemacht. Einen Bundestrainer gibt es schon und mit Jörg Roßkopf dazu einen, der seine Sportart ebenfalls geprägt hat. Aber warum sollte Boll nicht all seinen Spielverstand, sein Spielwissen später als Coach bei großen Turnieren einsetzen? Spielern aus seiner Schatzkiste kleine, kostbare Tipps schenken? Ihn dann wieder regelmäßig in der Halle zu sehen, davon würden nicht nur die Spieler etwas haben, sondern sein ganzer Sport.
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