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Anspruchsvoll. Beim Stretching kann Frau oder Mann vieles falsch machen.

© Indiapicture/Imago

Kolumne „Losgelaufen“: Warum Kräftigen wichtiger ist als Dehnen

Stretching ist angenehm und tut unserem Körper gut. Aber Stretching hat eben nicht den Effekt, den sich einige wünschen.

Jeannette Hagen ist freie Autorin in Berlin, Sportlehrerin und Läuferin. Hier schreibt sie im Wechsel mit Radsporttrainer Michael Wiedersich.

Ich bin ein Dehn-Muffel. Wenn das Wort Dehnen nicht in meinem Trainingsplan stehen würde, ich würde es komplett vernachlässigen. Dabei ist überall zu lesen, dass Stretching wichtig ist. Außerdem reicht ein Blick auf meinen Hund, der sich ziemlich oft genüsslich in alle Richtungen reckt und streckt.

Ich weiß, dass ich mich nach einer Stretching-Einheit grundsätzlich besser fühle. Aber das hält eben nicht an, weil der Effekt nicht anhält. Es ist wie beim Putzen: Wir machen es, freuen uns, wenn alles sauber ist, wissen aber, dass nach ein paar Tagen wieder Staub auf dem Schreibtisch liegt und das Ganze von vorne losgeht. Nicht gerade motivierend.

Beim Dehnen gibt es keinen Superkompensationseffekt

Stretching-Erfolge sind nicht von Dauer. Wir müssen es immer wieder tun, um einen Zustand X aufrechtzuerhalten. Jetzt sagen Sie sicher, dass man das auch beim Laufen muss. Richtig. Und trotzdem haben wir beim Ausdauer-, Kraft- oder Schnellkrafttraining einen Effekt, den es beim Stretching so nicht gibt: den Superkompensationseffekt.

Ganz leicht erklärt bedeutet er, dass die Leistung der Muskulatur durch Training auf ein bestimmtes Niveau gehoben wird, der Muskel sozusagen aus seinem Gleichgewicht gebracht wird. Die Kurve steigt bei der Belastung an, fällt aber im Verlauf der Anstrengung nach unten, weil der Muskel natürlich ermüdet. Jetzt gönnen wir ihm eine Erholung, die Leistungsfähigkeit steigt wieder und das macht sie nicht nur bis zu dem Level, auf dem wir vor dem Training waren, sondern sie geht sogar noch ein bisschen höher.

Wenn wir an diesem Punkt der Kurve das neue Training ansetzen, verbessern wir automatisch unsere Leistungsfähigkeit. Verpassen wir den Punkt, weil die Abstände zwischen den Trainingseinheiten zu groß sind, wird die Leistungssteigerung deutlich langsamer oder gar nicht stattfinden. Dasselbe gilt, wenn wir uns überlasten.

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Beim Stretching ist es anders, hier setzen wir zwar auch einen Reiz, aber der hat einen anderen Effekt. Muskeln, auch Sehnen oder Bänder, kann man nicht wirklich in die Länge ziehen, sodass sie in diesem Zustand bleiben, und dann beim nächsten Mal geht es noch besser und immer so weiter. Sie geben vielleicht nach, aber mit diesem Reiz der Dehnung lösen sie den Muskelspindelreflex aus, der uns davor schützt, dass unsere Muskeln reißen. Im Grunde ziehen wir etwas gegen seine eigentliche Bewegungsrichtung auseinander. Was wird der Muskel im Anschluss wohl tun? Richtig, er zieht sich wieder zusammen.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Stretching ist angenehm, tut unserem Körper gut, unter anderem auch, weil das Fasziengewebe gelockert wird. Aber Stretching hat eben nicht den Effekt, den sich einige wünschen. Es schützt nicht vor Verletzungen, es verringert keinen Muskelkater. Es steigert sicher in gewissem Maße die Flexibilität, wer aber grundsätzlich seine Beweglichkeit verbessern will, sollte auf intelligentes Krafttraining setzen, bei dem die Muskulatur ohne zusätzliche Gewichte in seiner gesamten Länge arbeiten kann.

Wenn Sie also das nächste Mal vom Laufen kommen, dann stellen Sie sich barfuß mit den Zehen auf eine Treppenstufe, ein dickes Buch oder eine andere Kante, neigen sich ein bisschen nach vorn und senken die Ferse nach unten ab. Dann drücken Sie sich hoch, verweilen oben ein paar Sekunden und senken die Ferse wieder ab. Damit unterstützen Sie nicht nur das Längenwachstum der Beinrückseiten, sondern tun obendrein auch Ihren Füßen etwas Gutes.

Jeannette Hagen

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