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© AFP

Per Mertesacker: "Wir gehen vorne drauf"

Wie verteidigt man klug, ohne den Gegner zu foulen? Nationalspieler Per Mertesacker erklärt es.

Herr Mertesacker, können Sie sich an Ihr letztes Foul erinnern, das zu einem Gegentor geführt hat?

Das gibt es bestimmt. Aber gut ist auch, wenn man so etwas schnell verdrängen kann.

Sie sollen in der Nationalelf nur alle 450 Minuten ein Foulspiel begehen, trotzdem gewinnen Sie fast alle Zweikämpfe. Wie spielt man denn Fußball, ohne zu foulen?

Gucken, gut stehen und im richtigen Moment angreifen.

Sie gelten als Musterbeispiel eines modernen Verteidigers. Wie wird man das?

Wichtig ist, dass du möglichst nicht in eine brenzlige Situation kommst, also allein gegen einen Stürmer stehst. Das ist die Situation, vor der du am meisten Respekt hast, wenn ein Stürmer mit Tempo auf dich zuläuft und du hast niemanden in deiner Nähe, du weißt, dich kann keiner mehr absichern. So wirst du gezwungen, das Risiko eines Foulspiels einzugehen. Es gibt eben Momente, in denen du foul spielen musst, weil es kritisch ist.

Aber Bundestrainer Joachim Löw hat doch gerade den deutschen Verteidigern das Foulspiel untersagt.

Davon habe ich gehört. Es geht aber darum, dumme Fouls zu vermeiden.

Sind Grätschen dumme Fouls?

Das kann man so nicht sagen. Ich grätsche schon, und zwar ganz bewusst. Das heißt: Ich grätsche dann, wenn ich mir sicher bin, die Situation klären zu können. Das bedeutet, ich muss den Ball auch wirklich bekommen.

Ansonsten holt Sie Joachim Löw vom Feld?

Nein, ich darf nicht blind grätschen, nur mit der vagen Hoffnung, den Ball zu bekommen. Denn was passiert bei einer Grätsche?

Sie liegen lang?

In aller Regel, ja. Und bis man aufgestanden ist, vergeht wertvolle Zeit. Zeit, die den Gegner in Vorteil bringt.

Oder Sie haben ihn mit der Grätsche gleich mit von den Beinen geholt.

Dann gibt es Freistoß. Wieder wären wir im Nachteil. Aus Standards fallen viele Tore.

Wie sieht Ihre Lösung aus?

Wie gesagt, auch grätschen! Wenn man den Ball bekommt, darf man das. Am besten aber ohne Foulspiel.

Aber dann ist das Spiel der deutschen Mannschaft ja gar nicht mehr deutsch.

Darum geht es schon lange nicht mehr.

Geht es denn nicht mehr um die deutschen Tugenden wie Kraft, Ausdauer, Zweikampfstärke?

Natürlich geht es auch darum. Diese Tugenden müssen wir wie selbstverständlich aufbringen, sonst hätten wir keine Chance. Aber um erfolgreich zu spielen, reichen sie nicht mehr aus. Wir wollen flüssig, klar und deutlich nach vorn spielen, so dass man einen Kombinationsfußball auch erkennen kann. Dafür brauche ich Laufbereitschaft, Zweikämpfstärke und Einsatzwillen als Basis.

Ist da nicht früher einer drauf gekommen?

Ich kann nur etwas zu meinem Weg in der Nationalmannschaft sagen. Fußballerisch haben wir ein erfolgreiches Deutschland. Die Statistiken seit einem Jahr können sich weltweit sehen lassen. Aber das ging nicht von heute auf morgen. Ich glaube, man kann sich darüber freuen, dass wir großes Potenzial haben. Wir reizen unsere Möglichkeiten momentan sehr gut aus. Aber das heißt nicht, dass wir jetzt immer alles gewinnen.

Erst hat Deutschland die Entwicklung verschlafen und nun ist die Nationalelf ein Trendsetter geworden.

Darauf sind wir stolz. Jeder Einzelne von uns bringt schon dieses Gefühl mit, wenn er zur Nationalmannschaft stößt. Wir kennen unseren Weg, wir kennen unsere Aufgaben. Jeder bringt sich ein, damit etwas Gutes herauskommt. Das sind neue, deutsche Tugenden.

Was war denn bei Ihnen zuerst da: das erfolgreiche Zweikampfverhalten oder die Erkenntnis, dass es ohne Fouls besser geht?

Dass es ohne Fouls besser geht, darüber habe ich nie bewusst nachgedacht. Es hat wohl damit zu tun, wie ich fußballerisch erzogen wurde. Ganz früh ist mir beigebracht worden, dem Gegner den Ball abzulaufen. Mein Spiel war darauf geeicht, kaum Gegnerkontakt zu haben. Und mit der Einführung der Viererkette hat sich daran nichts grundlegend geändert.

Weil Sie immer schon so geschickt verteidigt haben?

Nein, aber meine prinzipielle Spielweise hat sich von der Oberliga zur Bundesliga nicht groß verändert. Als ich bei Hannover spielte, war die Devise: Wir lassen den Gegner erst einmal kommen. In Bremen ist das anders. Es heißt: Wir gehen vorne drauf.

Dann war die Umstellung von Hannover zu Bremen größer als die von Bremen zur Nationalelf?

Sehen Sie, in Bremen lasse ich als Verteidiger viel mehr Raum hinter mir, weil wir weiter vorn verteidigen. In Hannover war hinter mir gleich das eigene Tor. Da hatte man das ganze Feld vor sich, was leichter zu verteidigen ist. In Bremen muss ich als Verteidiger viel mehr Risiko gehen, weil ein Stürmer mal lang in den Raum hinter mir stoßen kann. Der Raum hinter einem ist weit schwieriger zu verteidigen. Aber das ist genau das, was ich haben wollte. Und das habe ich auch bei der Nationalmannschaft.

Was macht denn Ihr Spiel anspruchsvoller als herkömmliches Abwehrverhalten?

Mein Spiel? Ich spiele in einer Viererkette, deswegen kann man nicht von sich allein sprechen. Abwehrverhalten ist heute ein kollektives Erlebnis. Heute hat man ja nicht mehr unbedingt den direkten Gegenspieler. Es geht um Organisation in der Kette, um Kommunikation. Wenn einem ein Gegner in den Rücken läuft, wird einem das durch Zurufe des Mitspielers klargemacht. Die Abstimmung ist wichtiger als die Frage: Wie stehe ich zum Gegenspieler? Vielmehr fragen wir uns immer: Wie stehen wir als Reihe, als Gruppe, als Mannschaft zum Gegner?

Mussten Sie Ihr Abwehrspiel schon mal vor einer Gruppe erklären?

So extrem wie bei Ihnen jetzt noch nicht. Bei der Nationalmannschaft wird viel gezeigt und vorgeführt. Ich bin da mehr der Zuhörer und Aufpasser.

Joachim Löw hat ja dem Erklären einer funktionierenden Viererkette seinen Job zu verdanken.

Modernes Abwehrverhalten ist stärker ins Bewusstsein getreten. Modern heißt heute: intelligentes Zweikampfverhalten, also dem Gegner den Ball ablaufen oder aber ihn so unter Druck setzen, bis er Fehler macht. Wann ist ein Gegenspieler frontal oder von der Seite anzugreifen, wann ist er zu doppeln?

Ist der Verteidiger heute ein besserer Fußballer?

Das wird von uns verlangt, vor allem hier bei der Nationalmannschaft. Wir sind nicht mehr nur dazu da, den gegnerischen Stürmer aufzuhalten, sondern sind stärker am eigenen Spiel beteiligt. Meist haben wir ja die erste Aktion beim Aufbau des eigenen Spiels.

Wie sollte der erste Pass sein: sicher und klar oder schon einer Inspiration folgend?

Bitte keine Inspiration à la tödlicher Pass – niemals! Der erste Pass sollte sicher und klar sein und – wenn es geht – vertikal, damit man schon ein paar Reihen überspringt. Aber man muss das Risiko abwägen. Ein Ballverlust in hinterster Reihe – das ist die gefährlichste Zone, die man sich vorstellen kann.

Kommen Ihnen im Zweikampf Ihre zwei Meter Körpergröße zugute?

Schön wär’s. Ich denke, es kommt mehr auf den Spielertypen an. Es gibt Abwehrspieler, die aggressiv eng am Gegner stehen, wenn er angespielt wird. Somit kommt man unweigerlich in eine Situation, in der man den Hacken des Gegners spürt. Der andere spielt lieber im Raum und rückt nur dann ran, wenn es nötig ist. Da sollte man dem Verteidiger Freiheit lassen – genau wie jedem Stürmer auch.

Mehr Freiheit für Verteidiger?

Ja, das schönste Gefühl eines Verteidigers ist, wenn er einen Stürmer ohne Foulspiel stoppen kann und als Zweikampfgewinner dasteht.

Das ist dann ein bisschen wie Torschießen?

Das ist wahrscheinlich unser Ausgleich dazu. Das ist das Glücksgefühl der Verteidiger.

Das Gespräch führte Michael Rosentritt.

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