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Brasilien tritt bei dieser WM wieder als Einheit auf und hat sich auch deswegen einen Favoritenstatus erspielt.

© AFP/MANAN VATSYAYANA

WM-Viertelfinale gegen Kroatien: Brasiliens nächster WM-Titel ist eine Frage von nationaler Dringlichkeit

Die Brasilianer spielen bei dieser WM wieder wie Brasilianer. Und dennoch sind nicht alle in der Heimat überzeugt, dass es so zum Titel reichen könnte.

„Ich habe den Fußball, den wir spielen, nicht erfunden, er ist Teil unserer Kultur“, Brasiliens Coach Tite erklärt es gern noch einmal. Die heiße Phase der WM hat begonnen, sein Team brilliert, tanzt Gegner aus wie zu glorreichen Zeiten, doch der Erfolg ist den brasilianischen Journalisten nicht geheuer.

Beim fünfmaligen Weltmeister geht es wie so oft um alles. 20 Jahre liegt der letzte Titelgewinn zurück. Zwei triste Dekaden, die nun in Katar ein Ende finden sollen. Der grandiose Auftritt, die unverstellte Freude beim 4:1-Sieg im Achtelfinale gegen Südkorea, hat die WM-Hoffnungen bei der Gefolgschaft der Seleção in schwindelnde Höhen katapultiert. Nun heißt es: Augenmaß behalten.

Kroatien scheint auf den ersten Blick unter den hochkarätigen Viertelfinalisten eine lösbare Aufgabe. Doch das Team vom Balkan hat gegen Japan gezeigt, wie nervenstark es ist.

Tite muss im „Presskonferenzraum 1“ im Nationalen Kongresszentrum zu Doha also erneut die ganz großen Fragen beantworten: Professor, warum schießt Ihr bei diesem Turnier nur Tore in der ersten Halbzeit? Wozu diese ausufernden Tänze, zu denen sich sogar die Ersatzspieler nach jedem Treffer zusammenfinden? Wie groß ist die Gefahr, dass das offensiv ausspielende Team wie einst die legendäre Elf um Zico und Socrates bei den WMs 1982 und 1986 in Schönheit stirbt?

Bei Pressekonferenzen von Brasilien begrüßt Trainer Tite die Journalisten per Handschlag

Doch Tite hat keine Lust, auf die Sorgen der Medienleute einzugehen. Brasilien hat eine Fußballkultur, die sich nicht verändern lasse, sie sei Teil der langen Geschichte dieses Landes, sagt er. Und dazu gehören nun einmal entsprechende Verhaltensformen. Der Coach will sich am Schönen erfreuen, was diese Kultur mit sich bringt.

Während Pressetermine dieser Art beim DFB oft so beamtisch und nüchtern wie die Verkündung von Bilanzzahlen bei DAX-Konzernen ablaufen, artet die Runde mit Brasiliens Trainer fast zum Happening aus. Bevor die erste Frage gestellt ist, begrüßt der Coach freundlich per Handschlag einige Journalisten, die er in der ersten Reihe entdeckt. Er macht Selfies, es wird gelacht, einer reicht ihm ein Goodie-Bag nach oben.

Nach jeder Frage aus dem überfüllten Auditorium bittet Tite den Fragesteller zunächst um seinen Namen, damit er ihn in der Antwort persönlich ansprechen kann.

Wie einen arabischen Kollegen, der nach einem möglichen Aus gegen Kroatien fragt: „Mohamed, die Seleção, das bin nicht ich, es gibt sie seit vielen Jahren. Sie müssen unsere Geschichte kennen, um zu verstehen, warum wir unseren Fußball nicht von Grund auf ändern können, selbst wenn wir Gefahr laufen, am Ende nicht den WM-Titel zu holen.“

Wenn diese Mannschaft ein Gemälde ist, sind die Athleten diejenigen, die das Bild bestimmen, sie sind die Porträtierten, wir Trainer helfen lediglich mit, das Bild zu malen.

Trainer Tite über die Schönheit des brasilianischen Spiels

Tite redet über Freude, Schönheit, Eleganz und Hingabe. Und bemüht eine Metapher: „Wenn diese Mannschaft ein Gemälde ist, sind die Athleten diejenigen, die das Bild bestimmen, sie sind die Porträtierten, wir Trainer helfen lediglich mit, das Bild zu malen.“

Nach der WM will er seinen Verbandsjob an den Nagel hängen. Er hat Brasilien nach der verkorksten Heim-WM wieder stolz gemacht. Hat um Megastar Neymar ein Team aufgebaut, das nicht wie die abgehobene 2014er-Generation auf die Menschen in seiner geschundenen Heimat herabschaut, sondern wieder die Lebensfreude versprüht, für die der brasilianische Fußball seit der Nachkriegszeit steht.

Neymar ist noch immer der Star des Teams, auch wenn er bei dieser WM schon verletzt zuschauen musste.
Neymar ist noch immer der Star des Teams, auch wenn er bei dieser WM schon verletzt zuschauen musste.

© IMAGO/Moritz Mueller

Vinicius Junior, Rodrygo, Richarlison, Lucas Paqueta sind Hoffnungsträger einer womöglich neuen goldenen Generation, die um den oft kränkelnden Neymar wie ein Schwarm Bienen kreisen. Und zumindest in den ersten 45 Minuten ein Schwindelgefühl bei der Hintermannschaft Südkoreas hervorriefen.

Wie sehr die Zeichen wieder auf Party stehen, zeigte sich im Achtelfinale nach jedem Treffer. Da stilisierten sich nicht nur die Spieler auf dem Rasen in ihrer Begeisterung als elf gutgelaunte Freunde, auch die Ersatzspieler fanden sich an der Bank zu einem ritualisierten Jubel zusammen und tanzten im Kreis. Und mittendrin der 61-jährige Coach.

Internationale Journalisten erkannten in der Geste Schadenfreude und warfen den Brasilianern gar mangelnden Respekt vorm Gegner vor.

Tite kann über derlei Interpretationen nur den Kopf schütteln, denn in guten Momenten reiht er sich bei den tanzenden Spielern gerne ein: „Ich muss das tun“, sagt er, „um eine Verbindung zu dieser Generation aufrechtzuerhalten. Ich bin 61, ein paar von denen könnten meine Enkel sein. Selbst zu denen, die mir im Kader nicht nah so stehen, kann ich in diesen Augenblicken eine Beziehung aufbauen.“

Der Trainer strahlt große Ruhe aus, als er auf die vielen kritischen Fragen reagiert. Ein brasilianischer Journalist bekommt spontan Szenenapplaus von Kollegen, als er erklärt, warum die Sicht auf das Team bislang so von Zweifel geprägt ist: „Wir wollen euch doch nur helfen, damit ihr vorankommt“, so der Kollege.

Der sechste Titel scheint offenbar eine Frage von nationaler Dringlichkeit zu sein. Und die 0:1-Niederlage im letzten Gruppenspiel gegen Kamerun, auch wenn sie von einer besseren B-Elf verantwortet wurde, lässt alle auf der Hut sein.

Brasiliens Nationaltrainer Tite kommt gut an in der Mannschaft und auch bei den Journalisten.
Brasiliens Nationaltrainer Tite kommt gut an in der Mannschaft und auch bei den Journalisten.

© dpa/Mike Egerton

Doch Tite nimmt allen im Raum den Wind aus den Segeln. Sein Mantra: Erfreut euch am schönen Spiel, der Rest wird sich fügen. Auch gegen die resilienten Kroaten will er an seiner Taktik festhalten: Aus einer massiven Abwehr heraus soll sein Team rasante Angriffe mit langen Bällen in die Spitze starten, um ein schnelles Tor zu erzielen und dann die Intensität des Spiels selbst zu bestimmen.

Sie wissen: Kroatien hat noch keins seiner bislang drei WM-Spiele, die in die Verlängerung gingen, verloren. Die mentale Stärke des Kaders von Zlatko Dalić flößt selbst den optimistischen Brasilianern Respekt ein.

„Ein vorgezogenes Finale“, nennt der kroatische Trainer denn auch das Aufeinandertreffen. Ein Spiel, das er gern noch ein bisschen aufgeschoben hätte. Dalić weiß, dass ein frühes Gegentor ein Risiko birgt. Er hat sich den 2:0-Sieg Brasiliens gegen Serbien in Vorrunde sehr genau angeschaut.

„Nach dem Tor sind sie nervös geworden und haben Entscheidungen getroffen, die nicht zu ihrem Vorteil waren,“ erklärt der 56-Jährige, „sie konnten danach ihren Spielrhythmus nicht aufrechterhalten. Wir müssen also zusehen, nicht in diesen Konflikt mit uns selbst zu kommen.“ Und während er diese Worte spricht, wirkt auch der Kroate, an dessen Seite Luca Modric sitzt und cool in sich hineinlächelt, sehr selbstgewiss.

Gut, dass ein Journalist von Tite dann noch wissen will, was eigentlich aus der Katze wurde, die sich tags zuvor bei der Pressekonferenz mit Vinicius Junior im brasilianischen Lager auf den Tisch gesetzt hatte, ehe sie vom Medienchef am Schopfe gepackt wurde, der das Tier unsanft auf den Fußboden fallen ließ.

„What’s your name?“, ruft Brasiliens Coach. Als der Journalist ihm antwortet, lässt er den Zeigefinger quer durch den Raum wandern, bis er seinen Pressesprecher Vinicius Rodrigues gefunden hat. Dann sagt er scharf und mit einem erkennbaren Schalk im Nacken: „DENNIS! Dort steht der Mann, der das wissen muss.“ Die einzige Frage, die sich Tite nun noch stellt, muss sein Team am Freitag auf dem Rasen im Education City Stadion im Westen Dohas sportlich für ihn beantworten.

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