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Gesundheit: Eine Bremer Versuchsbühne spielt mitten im Leben

"B und E", ruft eine Informatik-Studentin fragend in Richtung Bühne. Zwei Schauspieler erheben sich von ihren Stühlen.

"B und E", ruft eine Informatik-Studentin fragend in Richtung Bühne. Zwei Schauspieler erheben sich von ihren Stühlen. "Ich darf sie heute abend herzlich willkommen heißen und begrüße mit ihnen Marianne Rosenberg." Schauspielerin B verbeugt sich tief, die rechte Hand ausgestreckt, um den imaginären Schlager-Star zu präsentieren. Schauspieler E seufzt und blickt sich um, schaut ins Publikum. Er scheint verzweifelt. Solange niemand im Publikum erneut einen Buchstaben aufruft, wiederholen die beiden Schauspieler ihre Szenen - wie eine Schallplatte, die einen Sprung hat.

"Die Welt ist die Bühne, und wir gehen zum Publikum" beschreibt Theaterleiter Jörg Holkenbrink die Arbeitsweise des 1992 als Experimentalbühne gegründeten "Theaters der Versammlung" an der Universität Bremen. Nicht verwunderlich also, wenn sich das Theater auch in einem Informatik-Seminar wiederfindet, um sich mit dem Thema "Interaktion" zu beschäftigen. Die einstige Versuchsbühne ist mittlerweile als Theater im Studium integriert und hat ein professionelles Ensemble, das mit den Studenten zusammen Stücke entwickelt.

Keine Klassiker

Als Vorlage dienen hier nicht die Klassiker des Dramas, sondern unterschiedliche Rollen im Leben der Studenten: "Wir gehen durch die Fachbereiche, nehmen an Lehrveranstaltungen teil und experimentieren mit den Fragestellungen von Bildung und Wissenschaft." Denn gerade Hochschulen wird nachgesagt, dass das theoretische Wissen kaum Bezug zu den Anforderungen in der Welt "da draußen" hat. Die Eintrittskarte für die Berufswelt, meint Holkenbrink, könne also nicht nur das sein, was Lehranstalten bieten. Vielmehr sollte die Universität die Studenten anregen, sich auch mit anderen als den uns bekannten Dingen zu befassen.

Die Studenten des Seminars "Interaktion" sehen nach wie vor ein wenig überrascht den Darstellern auf der Bühne zu. Dabei hatte Holkenbrink sie vor Beginn des Stücks genau instruiert: "Ihr könnt das Stück selbst mitgestalten. Ruft den Spielern einen Buchstaben zwischen A und F zu. Hinter jedem der Buchstaben verbirgt sich ein Ausschnitt einer Rolle aus einem unserer Stücke." Gemeint ist, dass die Studenten wie beim Computer die einzelnen Schauspieler durch Zuruf "anklicken". Jeder führt dann seinen "Befehl" aus und spielt seine Rolle.

Nach der anfänglichen Zurückhaltung ist das Publikum nun forscher. Einige geben laut und bestimmt ihre Anweisungen in der Hoffnung, dass sich endlich eine sinnvolle oder auch witzige Kombination der einzelnen Rollen ergibt. "B und E setzen. C und D schnell in den Papierkorb!" Wie vor dem Bildschirm können die Anwender - hier das Theaterpublikum - fröhlich an ihrem Programm experimentieren. Die eine Datei wird weggeschmissen, die andere wieder hervorgekramt. Der Arbeitsspeicher wird erweitert, schon läuft das System in rasender Geschwindigkeit.

Neues und Ungewöhnliches auszuprobieren, ist gerade für das "Theater der Versammlung" eine ständige und auch gewollte Herausforderung. "Fertig sind die einzelnen Stücke sowieso nie", sagt Holkenbrink. Es sei vielmehr ein Prozess, der durch die Veranstaltungs-Dramaturgie, das Verknüpfen und Kombinieren der Inhalte mit dem Publikum erst entstehe. "Wir ermöglichen einen Perspektivwechsel: das Theater als Andersmacher." Holkenbrink sieht seine Arbeit als Teil einer Bildungsreform. "Viele rufen immer wieder nach Innovationen, gerade in der Bildung. Wir setzen durch Störung des Gewohnten Innovation in Gang."

C philosophiert über Paarprobleme, F blickt sein Gegenüber an: "Ich wollte nichts anderes, als offen mit Ihnen reden." Zwar scheint es manchmal so, als würde sich ein aus sich heraus verständlicher Dialog ergeben. Nach spätestens drei Sätzen jedoch beginnt der Gesprächsfaden sich in verschiedene Richtungen aufzudröseln. Jeder Schauspieler zieht an seinem Ende. Das Publikum muss sich entscheiden, wem es folgen möchte. Doch wie beim Computer gibt es auch hier eine Lösung: "E und F Papierkorb. B doppelt Ende." Zwei Schauspieler werden vorübergehend aus dem Programm genommen und Darsteller B kurzerhand per Doppelklick von der Festplatte gelöscht. Wiederaufrufen unmöglich.

Erfolg außerhalb der Uni

1993 mit dem "Berninghausen-Preis für ausgezeichnete Lehre und ihre Innovation" gelobt, hat das "Theater der Versammlung" inzwischen auch außerhalb der Universität großen Erfolg. Ob für Managementkurse oder für Gesundheitsinitiativen, das Theater erprobt individuelle Stücke, die sich mit einem bestimmten Thema auseinandersetzen. "Viele sprechen uns an und bitten uns, bestimmte Problemstellungen in unseren Stücken zu thematisieren", beschreibt Holkenbrink die Enstehung neuer Ideen. Einige fließen später auch wieder in die Hochschularbeit mit ein.

So souverän die Informatik-Studenten auch die Software ihrer Computer zuhause bedienen mögen, im Theaterexperiment klappt die Anwendung nicht ganz reibungslos. Aber das ist durchaus gewollt. Denn Ziel des Theaters ist es, bekannte Situationen in einen neuen Kontext zu stellen und so andere Sichtweisen zuzulassen. Die Dinge mal aus anderer Perspektive zu sehen, hat die Studenten ins Grübeln gebracht: "Wir konnten zwar die einzelnen Stücke beliebig aneinanderfügen, aber Einfluss auf die Rollen hatten wir nicht." Wer hat da jetzt mit wem gespielt? Holkenbrink: "Lösungen geben wir als Theater nicht. Wir moderieren bloß die Störung des Gewohnten."

Nathalie Sander

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