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Die Insel Oie in der Greifswalder Bucht.

© Verein Jordsand

Gesellschaft: Wo die wilden Vögel wohnen

Wie ein Komma liegt die Greifswalder Oie in der Pommerschen Bucht. Die Insel ist ein Paradies für Ortsansässige und Zugvögel. Touristen kommen nur für wenige Stunden am Tag.

Im Himmel ist die Hölle los! Ein paar Meter über unseren Köpfen zanken eine Nebelkrähe und ein Sperber um die Lufthoheit. Gekrächz, Gefiepe, heftiges Flattern. Am Ende dreht der Greifvogel entnervt ab. Beruhigt setzt sich die Krähe auf einen Ast. Wäre ja noch schöner - schließlich hat sie hier, auf der Insel Greifswalder Oie nahe Rügen, ihren Hauptwohnsitz. Der Sperber jedoch ist nur auf Durchzug.

Vielleicht ist es genau jener, den wir wenig später aus einem der 25 Fangnetze auf der Insel befreien: grauweißbraunes, zebraartig gestreiftes Gefieder, angriffslustige Augen. Und Krallen natürlich, auch darum ist Vogelkundlerin Stella Klasan ganz vorsichtig, während sie den Sperber aus den Maschen fummelt. Ein Aluring ziert das Bein, es war also nicht seine erste Begegnung mit einem Fangnetz. Irgendwo in Norwegen wurde er markiert und wieder freigelassen.

Stella Klasan steckt das angststarre Tiere kopfüber in einen Beutel, ihre Kollegin Mona Kiepert trägt die Daten seines Ringes - eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen - am Computer in eine Datenbank ein. Sie vermisst Körper- und Flügellänge und ermittelt das Gewicht. Behutsam pustet sie ins Gefieder, um den Zustand der Haut zu prüfen. Bald schon fliegt der Sperber wieder hoch über der Greifswalder Oie.

Jede volle Stunde absolvieren Stella Klasan und ihre Mitarbeiter von der Biologischen Station Greifswalder Oie die Tour entlang der Fangnetze. „Die Tiere sollen ja nicht zu lange leiden“, erklärt sie. Rund 25 000 Zugvögel puken sie von Frühjahr bis Herbst im Auftrag des Naturschutzvereins Jordsand heraus, vom gerade fünf Gramm leichten Sommergoldhähnchen bis zum Höckerschwan, einem Zwölf-Kilo-Brocken. Mal fangen sie mehr, mal weniger Vögel. „Vor kurzem erst waren es 2000 Rauchschwalben in nur einer Stunde“, sagt Stella Klasan.

Die Vogelkundlerinnen Stella Klasan und Mona Kiepert überprüfen die Ringe zweier Rotkehlchen.
Die Vogelkundlerinnen Stella Klasan und Mona Kiepert überprüfen die Ringe zweier Rotkehlchen.

© Maik Brandenburg TSP

Wie ein grünes Komma liegt die 54 Hektar große Greifswalder Oie in der Ostsee. Ein achteckiger Leuchtturm aus Backsteinen strahlt weit über Meer und Land. Fischer errichteten im 19. Jahrhundert einen kleinen Hafen, auch ein Friedhof und eine Kapelle erinnern an sie. Die Nazis testeten auf der Greifswalder Oie verschiedene Raketentypen, in Sichtweite der Peenemünder Heeresversuchsanstalt, aus der die schrecklichen „Vergeltungswaffen“ stammen. Später stellten wachsame Grenzsoldaten der NVA sicher, dass die DDR-Bürger nicht etwa von den Zugvögeln lernten und ebenfalls „die Flatter“ machten.

Heute ist die Insel unbewohnt, ein attraktiver Rastplatz für Rohrsänger und Grauschnäpper, für Schwarzmeise, Ziegenmelker und viele weitere Arten. Viele kommen von weither, aus Skandinavien, dem Baltikum und dem Ural. Schutz bieten die dichten Wipfel von Ahorn, Esche, Hainbuche und Eiche; reichlich Futter finden sie in den Brombeerbüschen, im Weißdorn und in den Schlehen. Mit dem nahe am Ufer wachsenden Meerkohl, mit Strandroggen oder an den Ölweiden können sie sich den Bauch vollschlagen. Ein verwilderter Obstgarten lädt zum Dessert aus Äpfeln, Kirschen und Birnen. Energie genug, um den weiten Weg durchzustehen, der noch vor den Vögeln liegt. Die Dorngrasmücke etwa wird bis in die Sahara weiterziehen.

Die Greifswalder Oie, Deutschlands östlichste Insel, von oben.
Die Greifswalder Oie, Deutschlands östlichste Insel, von oben.

© Stefan Sauer/dpa

Lediglich schaulustige Besucher stören die Ruhe, täglich bringt eine Fähre ein rundes Dutzend von Usedom oder dem Festland hinüber. Sie schauen sich auf dem Rundweg um, der vorbei führt an Wiesen und Weiden, auf denen Rauwollige Pommersche Landschafe an Salzmiere und Tatarenrettich mümmeln. Nach zwei, drei Stunden legt das Boot wieder ab. Stella Klasan steht dann winkend am Kai, einen kleinen Tisch mit einer Spendendose neben sich. Denn davon ernährt sich der Verein Jordsand. Die Führungen sind kostenlos, die freiwilligen Helfer der Station bekommen kein Salär, sie müssen ihr Essen sogar selbst bezahlen. Dafür sind sie von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang auf den Beinen, prüfen die Fangnetze, registrieren, zählen die Durchzügler.

Anders als die 28-jährige Stationschefin sind die Helfer, Studenten zumeist, nur ein paar Wochen oder Monate hier. Stella Klasan dagegen hat wie die Nebelkrähe und einige Brutvögel ihren Hauptwohnsitz auf der Greifswalder Oie. Dort ist sie die einzige amtlich gemeldete Person. Seit anderthalb Jahren wohnt sie hier, fern von der Stadt, wo ihr „die Fernsicht, die Winde und die Vögel“ fehlen. Weg will sie auf keinen Fall. Allenfalls im Urlaub, gerade erst besuchte sie Aserbaidschan. Was sie dort getrieben hat? „Na, Vögel gucken natürlich.“ Maik Brandenburg

Maik Brandenburg

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