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Wirtschaft: Alice Braunstein

Geb. 1926

Eine Sprache herein, die andere heraus. Möglichst ohne jede Zugabe. Internationale Filmfestspiele, wunderbar. Aber wer versteht schon Xhosa, Kinyarwanda, Lingala, Farsi oder zumindest Schweizerdeutsch? Sicher, da gibt es die Untertitel. Doch die Filmschaffenden aus fernen Regionen, die schicken ja nicht nur ihr Werk mit freundlichem Gruß. Die reisen ja auch an, ganz ohne Untertitel. Und dann wollen sie sich erklären – bei Pressekonferenzen, miteinander diskutieren, sagen wir mal: der russische Regisseur und die chinesische Jurorin über das südafrikanische Musical. Man kann sich vorstellen: da kommt es zu den anspruchsvollsten Kombinationen, und ohne ein Großaufgebot an Dolmetschern und Übersetzern wären die Filmfestspiele entweder ein heilloses Chaos – oder eben eine sehr schweigsame Veranstaltung.

Doch keine Sorge, es gibt sie ja. Für jeden, nennen wir es mal: Sprachbegegnungsfall den Richtigen. Darum gekümmert hat sich seit 1961 eine menschliche Institution: Alice Braunstein. Da kam sie nach Berlin zurück, aus dem Exil in Montevideo, und plauderte fließend in Spanisch, Englisch, Deutsch. Sie wurde bestaunt dafür damals – und vom Fleck weg für die Filmfestspiele engagiert. Eine wie sie fand man nicht so leicht in Berlin.

Dabei hatte sie die polyglotte Prägung, die nun in Deutschland Eindruck machte, durchaus nicht nur freiwillig erworben. In Ostpreußen als Kind einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, lebte sie einige Jahre mit ihren Eltern im Schutz der Anonymität der Hauptstadt, bevor die Familie 1936 vor den Nazis nach Uruguay fliehen musste. Dort sprach sie Deutsch mit ihren Eltern, Englisch in der Schule und Spanisch auf der Straße. Nicht Deutsch, sondern die Straßensprache, die sie erst mit zehn Jahren kennen lernte, wurde ihre Muttersprache; Spanisch sprach sie mit ihrem Ehemann, der aus Österreich stammte, bis zu seinem Tod, und ins Spanische übersetzte sie ihr Leben lang als Dolmetscherin – nicht nur für die Berlinale.

Es gibt Fotos, die zeigen sie mit Kirk Douglas, mit Gregory Peck und Claudia Cardinale, Erinnerungen an die glamourösen Anfangsjahre, als sie auch noch Gäste betreute. Doch eigentlich verpflichtete ihr Beruf sie zur Unsichtbarkeit, und, bei allem Wissen, das zum Verstehen nötig ist, bei allem Reden: auch zum Stummsein. Nur ein Medium dürfen Dolmetscher sein, die eine Sprache kommt herein, die andere geht hinaus, möglichst ohne jede Zugabe. Und über alles Gehörte gilt es selbstverständlich, strengste Diskretion zu wahren.

Ihre private Telefonnummer kannte die halbe Welt. Junge Dolmetscher riefen bei ihr an, um sich vorzustellen: Braunsteins Urteil galt etwas in der Branche, in der ein guter Ruf alles ist. Kommen Sie zu mir, dann trinken wir Tee, sagte sie. Auf ihrem Sofa begutachtete sie streng den Lebenslauf, die Arbeitszeugnisse, das Auftreten des Kandidaten. Dann riet sie, sich in Brüssel bei der EU noch etwas die Sporen zu verdienen, vermittelte einen Auftrag oder arrangierte eine „stumme Kabine“, wo der Nachwuchsdolmetscher sich unter Aufsicht eines erfahrenen Kollegen ausprobieren konnte.

Gelegentlich setzte sie sich selbst noch mit über 70 in die schalldichte Box mit Blick auf die Leinwand. Doch lieber lebte sie ihr Organisationstalent aus, plante die Arbeit anderer und ihre Einsätze als zweifache Oma.

Sie war mit ihrer Tochter, mit der sie seit Jahren das Geschäft gemeinsam führte, schon mit der Vorbereitung der Tourismusmesse beschäftigt, der Jahreskongress eines Software-Unternehmens stand ins Haus. Die Ärzte, die Familie, alle sagten: Tritt bitte kürzer, du bist 79!

Wäre sie nicht in der letzten Woche plötzlich umgefallen, sie säße heute in ihrem Büro, vor sich die aktuellen Einsatzpläne der Dolmetscher, würde eilig herumbasteln an den Feinheiten der Übersetzungspartitur für das große Festival, weil sich doch ständig etwas ändert. Am Potsdamer Platz, der, wie jedes Jahr mitten im Winter, für zehn Tage im Zentrum von Babylon liegt.

Kirsten Wenzel

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