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Wirtschaft: Chinas Wirtschaft steht das Wasser bis zum Hals

PEKING .Auf einer staubigen Straße im Pekinger Universitätsviertel wartet die alte Frau vor ihrem Geschäft auf Kundschaft.

PEKING .Auf einer staubigen Straße im Pekinger Universitätsviertel wartet die alte Frau vor ihrem Geschäft auf Kundschaft."Change Dollars!", flüstert sie den vorbeilaufenden ausländischen Studenten zu, "wechseln Sie Dollar!".Ein junger Amerikaner betritt das Geschäft.Hinter der Ladentheke holt die Frau ein dickes Geldbündel chinesischer Yuan hervor."Wie ist der Kurs?" fragt der Amerikaner."Acht Komma Acht", antwortet sie.Beide nicken kurz.Dann beginnt die Frau, mit geübten Fingern das Geld auf den Tisch abzuzählen.

Chinas illegale Geldwechselstuben haben Hochbetrieb.Die Nachfrage nach harten Währungen ist groß.Von Peking bis nach Kanton holen wohlhabende Chinesen ihre Spareinlagen von den Konten, um sie in US-Dollar umzutauschen.Für ausländische Marktbeobachter, die über die Zukunft der chinesischen Wirtschaft rätseln, ist der Schwarzmarktkurs eines der wichtigsten Indizien.Der Kurs verheißt nichts Gutes: Bis zu neun Yuan zahlen die illegalen Geldwechsler derzeit für einen US-Dollar, knapp neun Prozent mehr als der offizielle, staatlich festgelegte Wechselkurs.Das Vertauen der Chinesen in die eigene Währung und Wirtschaft ist auf einem Tiefpunkt.

In Europa und den USA beobachtet man die Entwicklung mit Sorge.China, mit 1,2 Milliarden Menschen das bevölkerungsreichste Land der Erde, ist für viele Ökonomen derzeit die große Unbekannte.Seit Beginn der Asienkrise vor einem Jahr scheint das fragile Gefüge des internationalen Handels immer mehr aus dem Gleichgewicht zu geraten.Die Aktienkurse in den USA und Europa reagieren empfindlich auf Negativmeldungen vom Rest der Welt.Ein Ende der Asienkrise ist aber nicht in Sicht.Im Gegenteil: Der Wirtschaftsgigant Japan rutscht immer weiter in die Krise.Die russische Wirtschaft gerät ins Taumeln."Wenn jetzt auch noch China fällt", sagt der US-Wirtschaftsprofessor Alan Blinder, "wird das im Westen böse Folgen haben."

Chinas Wirtschaft gerät zunehmend unter Druck.Bereits im März verfaßte Ministerpräsident Zhu Rongji einen Appell "zur Lösung der dringenden wirtschaftlichen Probleme".Die marode Staatswirtschaft stehe vor dem Kollaps, das Bankensystem vor dem Bankrott."Wir müssen den Umbau der Wirtschaft beschleunigen", fordert Zhu.Zwei Jahrzehnte nach dem Beginn der Reformen unter Deng Xiaoping ist der chinesische Aufschwung ins Stocken geraten.1997 betrug das Wirtschaftswachstum nur noch 8,8 Prozent.In den ersten sieben Monaten des Jahres sank das Wachstum weiter auf sieben Prozent - das schlechteste Ergebnis seit 1991.Die Hochwasserkatastrophe könnte das Wachstum zusätzlich um einen Prozentpunkt nach unten drücken, schätzen Experten.Das bisherige Wachstumsziel für 1998 von acht Prozent mußte Chinas Regierung bereits revidieren.Auch wenn die Wirtschaft weiter lahme, versuchte Staats- und Parteichef Jiang Zemin diese Woche, seine Landsleute zu beruhigen, "braucht sich das Volk noch keine Sorgen zu machen."

Probleme haben die Chinesen schon genug."Die Leute haben immer weniger Geld", sagt der Taxiunternehmer Zhou in der nördlichen Industriestadt Shenyang.Seit einem Jahr arbeitet er in seinem alten Lada-Taxi freiberuflich.1,6 Yuan - umgerechnet 35 Pfennig kostet der Kilometer.Der Preis ist seit Jahren von der Regierung eingefroren.Trotzdem werde es immer schwieriger, Kundschaft zu finden."Viele Leute haben Angst, daß sie ihre Arbeit verlieren, und sparen deshalb", sagt der 33jährige.Früher arbeitete Zhou in einem Staatsbetrieb, einer Textilfabrik am Stadtrand.Als die Fabrik vor einem Jahr umstrukturiert wurde, verlor die Hälfte der Belegschaft ihre Arbeit.Zhou war einer von ihnen.Er habe aber noch Glück gehabt, erzählt er.Von den Ersparnissen seiner Familie kaufte er das gebrauchte Taxi.Jeden Tag fährt er elf Stunden Taxi - sieben Tage die Woche."Die meisten meiner früheren Kollegen haben nach der Entlassung keine Arbeit gefunden", sagt er.

"Xia Gang" - "runter von der Arbeit" - nennen die Chinesen die derzeitigen Massenentlassungen.Schätzungsweise 30 Millionen Chinesen sind arbeitslos.In den Nordprovinzen, dem Zentrum der früheren sozialistischen Staatsindustrie, drohen ganze Landstriche in die Armut abzurutschen.Tagsüber sitzen die arbeitslosen Männer in den Straßengräben.Manche haben Pappschilder mit der Aufschrift "suche Arbeit!" um den Hals hängen.

Bis vor wenigen Jahren war Arbeitslosigkeit in China so gut wie unbekannt.Unter Mao hatte jeder Chinese das Anrecht auf einen staatlich garantierten Arbeitsplatz.In den städtischen Kaufhäusern traf man deshalb oft mehr Angestellte als Kunden.Heute können sich die chinesischen Staatsbetriebe ihr aufgeblähtes Personal nicht mehr leisten.Nach westlichen Bilanzrechnungen, sagt ein westlicher Diplomat, "sind drei Viertel aller chinesischen Staatsbetriebe bankrott." Die Folge ist, daß von Harbin im Norden bis nach Guilin im Süden Millionen Arbeiter auf die Straße gesetzt werden.Allein die staatliche Eisenbahn will bis zum nächsten Jahr 1,1 Millionen Angestellte entlassen.Ein soziales Netz für die Arbeitslosen gibt es nicht.

Auch die chinesischen Staatsbanken geraten immer mehr in Bedrängnis.Hinter vorgehaltener Hand geben Regierungsmitarbeiter zu, daß das Finanzsystem vor dem Zusammenbruch steht.Jahrzehntelang mußten die Banken die Staatsindustrie mit Krediten am Leben erhalten.Ausländische Experten schätzen den Anteil der nicht wiedereintreibbaren Kredite auf mindestens 20 Prozent.Umgerechnet mehr als 300 Mrd.DM sind verloren.

Dennoch hat Peking zum Erstaunen vieler Kritiker die Asienkrise bisher vergleichsweise gut überstanden.Trotz der offensichtlichen Probleme fließen auch weiterhin riesige Mengen an Investitionsgeldern aus dem Westen nach China.In Schanghai, Peking und Kanton werden im Rekordtempo neue Hochhäuser und Einkaufszentren gebaut.Die Fastfoodkette McDonalds eröffnet dieses Jahr gleich drei Dutzend neuer Filialen in China."Die Stimmung unter den ausländischen Investoren ist weiter optimistisch", sagt Ding Ningning vom Forschungszentrum für Entwicklung der chinesischen Regierung.Ein Beispiel ist BASF.Trotz der Asienkrise plant der Chemieriese in der südchinesischen Stadt Nanjing die größte Auslandsinvestition seiner Firmengeschichte.Für insgesamt 5 Mrd.DM soll dort bis zum Jahr 2003 eine integrierte Chemiefabrik nach dem Vorbild in Ludwigshafen entstehen.

Viele ausländische Anleger speisen ihren Optimismus aus der Entwicklung in den großen Städten.Trotz der wachsenden Arbeitslosigkeit steigt dort der Lebensstandard stetig an.In Peking, Schanghai, Kanton und Hangzhou sind in den vergangenen Jahren teure Kaufhäuser, Modeboutiquen und Nachtclubs entstanden.Die Ansprüche der Chinesen sind gewachsen und mit ihnen die Absatzchancen westlicher Produkte.Noch vor zehn Jahren standen auf der Wunschliste einer typischen chinesischen Stadtfamilie einfache Konsumgüter wie ein Fahrrad, eine Waschmaschine und ein Fernseher.Heute können sich viele ein eigenes Auto oder einen Computer leisten.

Fragt sich nur, wie lange noch.Spätestens mit der Asienkrise ist deutlich geworden, daß auch China seine Strukturprobleme nicht mehr länger vor sich herschieben kann.Bislang ist China dadurch geschützt, daß es in vielen Bereichen noch mehr Plan- als Marktwirtschaft ist.So wird die chinesische Währung, der Renminbi, bis heute nicht frei gehandelt.Angriffe von Währungsspekulanten waren in China nicht möglich.

Den Preis für die stabile Währung zahlt die chinesische Exportindustrie.Als im vergangenen Jahr praktisch alle Nachbarländer ihr Geld abwerteten, blieb der Renminbi stabil.Für Chinas Exporteure heißt das, daß sie auf dem Weltmarkt bis zu 20 Prozent teurer sind als Konkurrenten in Thailand oder Indonesien.Im ersten Halbjahr sank der Exportzuwachs im Vergleich zum Vorjahreszeitraum von 20,9 Prozent auf 7,6 Prozent.

Viele ausländischen Beobachter erwarten nun, daß China mittelfristig ebenfalls den Renminbi abwerten könnte.Eine leichte Korrektur könnte Chinas Exporte wieder ankurbeln und die lahmende Wirtschaft in Schwung bringen, sagen die Befürworter.Die Gefahr dabei ist jedoch, daß Chinas Nachbarstaaten ebenfalls mit einer neuen Abwertungswelle nachziehen könnten."Wenn China abwertet", warnt Lutz Hoffmann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, "geht in Asien das Karussell noch mal rund".Für Europa und die USA hätte das erhebliche Folgen.

Bisher hat Peking der Versuchung widerstanden.Doch je häufiger die Dementis wiederholt werden, desto stärker wächst bei Marktbeobachtern der Zweifel, ob Peking seine Politik durchhalten kann.Der niedrige Yen-Kurs der vergangenen Wochen hat den Druck auf Chinas Regierung zusätzlich erhöht.In den illegalen Wechselstuben drängen sich auf jeden Fall die Menschen, die ihre Yuan in sichere US-Dollar umwechseln wollen.Für viele ausländische Marktbeobachter ist dies das derzeit verläßlichste Zeichen zur Zukunft Chinas."Der Schwarzmarktkurs steigt", sagt ein deutscher Banker."Das sagt mehr als alle Statistiken."

HARALD MAASS

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