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Wirtschaft: „Löhne von fünf Euro sind unfair und sittenwidrig“

Verdi-Gewerkschaftschef Frank Bsirske über gesetzliche Mindestlöhne, die Tarifrunde im Zeichen des Aufschwungs und sein Verhältnis zur großen Koalition

Herr Bsirske, werden Sie im Herbst wiedergewählt?

Das entscheiden die Delegierten. Aber alle Zeichen deuten darauf hin.

Seitdem Sie Vorsitzender sind, hat Verdi 700 000 Mitglieder verloren.

Diese Zahlen spiegeln Branchenkrisen mit Massenarbeitslosigkeit in vielen Bereichen wider. In den letzten Jahren haben wir die Verluste verringert, von 5,7 Prozent in 2004 auf 3,6 Prozent in 2006. Im vergangenen Jahr hatten wir 109 000 Eintritte, das ist die höchste Zahl aller Gewerkschaften. Darunter sind 12 500 Eintritte von Auszubildenden.

Und wie viele Austritte?

Bei den Erwerbstätigen waren es 119 000. Das hängt damit zusammen, dass wir in vielen Dienstleistungsbereichen noch nicht die konjunkturelle Dynamik haben wie in der Industrie. Der Handel etwa litt bis vor kurzem unter der schwachen Binnennachfrage.

Bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen in vielen Dienstleistungsbereichen kommen Sie nicht weiter.

Es gibt Bereiche, wo Unternehmen einen besonders aggressiven Kurs gegen Arbeitnehmer verfolgen. Wir halten dagegen. Verdi hat sich als eine gesellschaftliche Kraft profiliert, die für fundamentale moralische Werte eintritt: Dass Arbeit nicht arm machen darf, dass Arbeit nicht entwürdigen darf. Dafür steht unsere Auseinandersetzung um den gesetzlichen Mindestlohn genauso wie unsere Lidl-Kampagne.

Hat das Mitglieder gebracht?

Bei Lidl haben wir viele Hundert Mitglieder gewonnen und wir wachsen weiter, brauchen dies auch, um eine dauerhafte betriebliche Interessensvertretung aufzubauen. Das braucht seine Zeit. Bei Schlecker haben wir inzwischen mehr als 100 Betriebsräte, das hat rund zehn Jahre gedauert. Alles in allem führen wir eine Auseinandersetzung gegen den Trend zur Amerikanisierung der Arbeitsbeziehungen.

Ihre Herzensangelegenheit ist die Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns. Was haben Sie erreicht?

Einen deutlichen Wandel im gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema. Während vor zwei Jahren noch alle möglichen Politiker, Wissenschaftler und Verbandsfunktionäre den Eindruck vermittelten, als bräuchten wir noch mehr Billigarbeitsplätze, hat sich der Blick auf die Realität stark verändert. Innerhalb der EU haben wir den fünftgrößten Billiglohnsektor. Die Stimmen haben an Gewicht zugenommen, die sagen, dass Löhne von 4,50 oder fünf Euro unfair und sittenwidrig sind. Das sind Löhne, die arm machen.

Arbeitsminister Müntefering will aber keinen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn. Er erwägt das Entsendegesetz, das alle Firmen einer bestimmten Branche zur Zahlung des niedrigsten Tariflohns verpflichtet, neben dem Bau auch auf andere Wirtschaftsbereiche auszudehnen.

Der Arbeitsminister hat im Gewerkschaftsrat der SPD einem Beschluss zugestimmt, wonach tarifliche Mindestlöhne verallgemeinert werden sollen. Erreichen Tariflöhne ein bestimmtes Niveau nicht, soll ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn greifen. Jetzt sollte Franz Müntefering auch Taten folgen lassen. Repräsentative Umfragen zeigen: Eine große Mehrheit der Menschen in Deutschland befürwortet einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro.

Es gibt in Deutschland rund 130 Tarifverträge, in denen die Gewerkschaften Löhne unterhalb von 7,50 Euro unterschrieben haben. Weil Sie nicht in der Lage sind, vernünftige Tarife auszuhandeln, soll der Gesetzgeber helfen?

Der Gesetzgeber hat immer Untergrenzen für das Arbeitsleben festgeschrieben, denken Sie nur an den Mindesturlaub oder die Höchstarbeitszeit. Das wollen wir beim Lohn auch, weil es in verschiedenen Bereichen absehbar nicht geht, anständige Löhne durchzusetzen: wegen des Drucks von mittel- und osteuropäischen Scheinselbstständigen und Kontingentarbeitern, wegen veränderten Zumutbarkeitsregeln nach Hartz IV und unter dem Druck von Arbeitgebern, die aus Tarifverträgen flüchten und die Gewerbefreiheit zu offener Ausbeutung nutzen.

Der wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministers sagt, wenn man einen Mindestlohn von 7,50 Euro einführt, würden 2,4 Millionen Stellen wegfallen, weil die Arbeit eben diesen Preis nicht wert ist.

Das hätten die Arbeitgeber gerne. Nur stimmt es nicht. Wir kennen das von der Einführung des Mindestlohns in anderen Ländern. In Großbritannien hieß es, dass 1,7 Millionen Arbeitsplätze durch den Mindestlohn verloren gehen würden. Das Gegenteil ist richtig. Und für zwei Millionen Menschen, insbesondere Frauen, hat es nach der Einführung 1999 eine deutliche Verbesserung ihrer Lebens- und Einkommenssituation gegeben. Die Angstpropaganda der Arbeitgeber ist von der Realität nicht gedeckt.

Als Politiker würde ich argumentieren, dass es Sache der Tarifparteien ist, anständige Löhne zu vereinbaren.

Da sind wir dabei. Aber wenn die Politik gleichzeitig Zumutbarkeitsregeln formuliert, wonach Arbeitslose zu einem Lohn vermittelt werden dürfen, der 30 Prozent unter Tarif liegen kann, dann verschlechtert die Politik die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen enorm. Oder wenn Landkreise in Baden-Württemberg Firmen zur Abfallentsorgung einsetzen, die Arbeitskräfte für fünf Euro beschäftigen, dann haben Sie als Gewerkschaft ein Problem, weil die Politik Regeln setzt, die die Handlungsbedingungen der Gewerkschaften schwer beeinträchtigen.

In diesem Jahr sind die Handlungsbedingungen ziemlich optimal. Welche Tarifabschlüsse streben Sie in Ihren Bereichen an?

Die Bundesrepublik ist das einzige Industrieland, in dem in den letzten zehn Jahren die Reallöhne gesunken sind. Gleichzeitig eilen wir von einem Exportweltrekord zum nächsten. Ist doch völlig klar, dass es jetzt Verteilungsspielräume gibt. Und zwar nicht nur 2007. Auch in den folgenden Jahren muss es mehr Geld geben. Verdi beginnt in diesem Jahr Verhandlungen im Großhandel, einer Branche, der es gut geht. Dann kommen Einzelhandel, Druckindustrie, Versicherungswirtschaft und die Telekom.

Wann gibt es im öffentlichen Dienst mehr Geld?

Die Schere zwischen den industriellen Bereichen und dem öffentlichen Dienst hat sich in den letzten Jahren in der Tat deutlich geöffnet. Aber nicht wegen der Tarifreform. Die hatte im Gegenteil für viele Beschäftigte positive Effekte. Ausschlaggebend war die Finanzkrise der öffentlichen Haushalte. Für 2007 werden allein bei den Gemeinden 36 Milliarden Steuereinnahmen mehr erwartet, so dass wir auf ein deutlich anderes Umfeld treffen, wenn es 2008 in die Tarifrunde geht.

Wie läuft die Tarifreform? Wird jetzt leistungsgerechter gezahlt?

Wir haben die Tarife für Arbeiter und Angestellte vereinheitlicht und den öffentlichen Dienst für Jüngere attraktiver gemacht. Jetzt steht aber die Reform der Vergütungsstrukturen an, also welche Tätigkeiten wie bezahlt werden. Das muss verhandelt werden, aber die Kommunen wollen offenbar einen weiteren Versuch zur Verlängerung der Arbeitszeit unternehmen. Wenn sie nicht einlenken, müssen wir das Thema mit in die nächste Tarifrunde nehmen.

Herr Bsirske, wahrscheinlich werden Sie Verdi mindestens bis 2011 führen. Gibt es bis dahin einen gesetzlichen Mindestlohn?

Wir arbeiten daran, bei der Bekämpfung von Armutslöhnen das Niveau unserer westeuropäischen Nachbarländer zu erreichen.

Geht das mit dieser Regierung?

Wenn der gesellschaftliche Druck groß genug ist, dann ist das auch in einer großen Koalition möglich. Denn wenn für Millionen Arbeitnehmer der Lohn für ihre Arbeit nicht zum Leben reicht, dann haben bald Frau Merkel und Herr Müntefering ein Problem mit ihren Wählern.

Das Gespräch führte Alfons Frese

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