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Depression ist eine ernste und lebensbedrohliche Erkrankung. Doch die vorhandenen Medikamente haben auch Nebenwirkungen und helfen zu vielen Patienten nicht oder nicht mehr als eine Kognitive Verhaltenstherapie.

©  dpa/Julian Stratenschulte

Medizin: Antidepressiva: Umstrittene Glücksbringer

Sie sollen Depressionen lindern. Doch Antidepressiva geraten immer stärker in Verruf - wegen ihrer Nebenwirkungen, aber auch wegen der Wirksamkeit.

Wir schreiben das Jahr 1956. Der Schweizer Psychiater Roland Kuhn (1912-2005) testet gerade einen neuen Wirkstoff des Chemieunternehmens Geigy. Kuhn stellt schnell fest, dass G22355, so der nüchterne Name des Präparats, bei seinen Patienten mit Schizophrenie nicht wie erhofft anschlägt. Wie es der Zufall will, entdeckt Kuhn aber etwas anderes: Bei den Patienten, die auch depressiv sind, hellt sich die Stimmung auf. Die glückliche Entdeckung eines der ersten Antidepressiva überhaupt sorgt allerdings bei Geigy keineswegs für ungetrübte Freude in Erwartung sprudelnder Einnahmen. Die Firma betrachtet depressive Störungen schlicht als seltene Erkrankung und steht zu dieser Zeit damit nicht alleine. Geigy zögert zunächst mit der Zulassung des Medikaments, weil man der Ansicht ist, es gäbe für Antidepressiva einfach keinen lohnenswerten Markt.

Wie sehr sich doch die Zeiten geändert haben. Laut aktuellen Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation leiden weltweit mehr als 300 Millionen Menschen an Depressionen. Die gestiegenen Fallzahlen hängen vor allem damit zusammen, dass psychische Störungen mittlerweile häufiger als früher erkannt werden. Eine Linderung ihres seelischen Leides erhoffen sich Betroffene zunehmend von Medikamenten. Nach dem Arzneimittelreport von 2016 sind die Verschreibungszahlen für Antidepressiva seit 1995 rasant in die Höhe geklettert, von anfangs 292 Millionen Tagesdosierungen auf 1.400 Millionen im Jahr 2014. Die letztgenannte Menge reicht aus, um 3,7 Millionen Menschen über das ganze Jahr hinweg mit Tabletten zu versorgen. Freilich fallen unter die Verschreibungen auch solche für andere psychische Störungen wie Angst-, Panik und Zwangsstörungen. Doch ein großer Teil der Medikamente soll Patienten aus dem eisernen Griff der Depression befreien.

Das Know-How reicht nicht immer

Vielfach sind es dabei nicht Psychiater selbst, die zum Rezeptblock greifen, sondern Hausärzte oder Internisten. Laut Angaben der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde wird heute rund ein Drittel aller Psychopharmaka von Hausärzten verschrieben. Zwar gibt es Experten, die es begrüßen, dass sich auch zunehmend Hausärzte um psychisch Kranke kümmern. Kritiker befürchten allerdings, dass deren Know-how nicht immer ausreicht, eine Depression von einer problematischen Lebensphase zu unterscheiden. Gerade unter Zeitdruck könnten sie so schnell einmal ein Rezept ausstellen, um ihre Patienten nicht mit leeren Händen aus der Praxis zu schicken.

Antidepressiva werden zu leichtfertig verschrieben, ist etwa der Psychiater Tom Bschor überzeugt, Chefarzt der Abteilung Psychiatrie der Schlosspark-Klinik Berlin. In die gleiche Kerbe haut der Mediziner Gerald Gartlehner von der österreichischen Donau-Universität Krems. „Vielen Ärzten scheint nicht klar zu sein, dass die Medikamente alles anderes als harmlos sind“, sagt er. In seinen eigenen Studien hatten 60 Prozent der Patienten mit Nebenwirkungen zu kämpfen. „Gerade bei älteren Menschen kann es zu Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten kommen“, so Gartlehner. Und an sich eher harmlose Nebenwirkungen wie Schwindel könnten bei dieser Gruppe dramatische Auswirkungen haben. Die betagten Patienten stürzen leichter und ziehen sich Knochenbrüche zu. Zu den schweren Nebenwirkungen zählt ein erhöhtes Suizidrisiko bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Nur rund 60 Prozent der Patienten sprechen auf Medikamente an

So manche Nebenwirkungen wären vielleicht für Patienten noch akzeptabel, sofern ihnen die Tabletten einen echten medizinischen Mehrwert böten. Diverse Einzelstudien haben zwar über die Jahre und Jahrzehnte den „Stimmungsaufhellern“ eine Wirksamkeit bescheinigt. Doch eine Reihe von Metaanalysen, die verschiedene Einzelstudien zusammenfassen, zeichnen ein anderes Bild: Meist ist es relativ gleichgültig, ob die Patienten in Untersuchungen ein echtes Medikament oder eine Zuckertablette bekommen hatten. Nur bei schwer depressiven Patienten ging die Wirkung der Medikamente in einem relevanten Maße über die der Placebos hinaus. Für diese Menschen gibt es sehr gute Gründe, die Tabletten zu schlucken.

„Antidepressiva sind leider keine Medikamente, die besonders gut wirken, und man muss sie sehr lange einnehmen“, betont Gartlehner. „Und nur rund 60 Prozent der Patienten sprechen überhaupt darauf an“, sagt er. Bei den restlichen 40 Prozent müsse man die Therapie wechseln oder ergänzen. Die nationalen Leitlinien zur Behandlung von Depressionen haben in einigen Ländern auf die im Vergleich zum Placeboeffekt eher bescheidene Wirkung von Antidepressiva reagiert. Die deutsche Leitlinie von 2015 empfiehlt aufgrund des „ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses“ Antidepressiva nicht generell in der Erstbehandlung von leichten depressiven Episoden.

Therapie ist eine echte Alternative

„Die leichte Form stellt aber einen Großteil der depressiven Erkrankungen da“, betont Bschor, der an der Leitlinie mitgewirkt hat. „Und es entspricht meiner Beobachtung, dass Antidepressiva in solchen Fällen häufig dennoch und abweichend von der Leitlinienempfehlung eingesetzt werden.“ In seiner psychiatrischen Abteilung in Berlin gibt Bschor Patienten mit leichten Depressionen nur in Ausnahmefällen Antidepressiva, etwa wenn die Patienten schon zuvor eine schwere Depression hatten. Betroffenen mit schweren Depressionen hingegen empfiehlt er schon den Griff zu den Tabletten. „Schließlich gibt es neben dem Placeboeffekt eine – wenn auch moderate – pharmakologische Wirkung“, sagt Bschor.

Gerald Gartlehner betont, dass man Patienten auch über die Therapiealternativen und deren jeweilige Vor- und Nachteile informiere müsse. Der Mediziner hat in Untersuchungen diverse Formen von Psychotherapie mit Antidepressiva verglichen. Die belastbarsten Ergebnisse hat er für die Kognitive Verhaltenstherapie gefunden. Bei dieser Variante lernen Betroffene negative Gedankenmuster zu identifizieren und zu verändern. Gartlehner fand nun keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Wirksamkeit von Antidepressiva und Kognitiver Verhaltenstherapie, egal wie stark die Depression ausgeprägt war. Die Behandlung mit Antidepressiva hatten Patienten aber auf Grund der Nebenwirkungen öfter abgebrochen. „Aus meiner Sicht ist die Kognitive Verhaltenstherapie damit eine echte Alternative zu Antidepressiva.“

Christian Wolf

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