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Aus dem Sit-in 1966 wurde ein Teach-in: Kabarettist Wolfgang Neuss trat vor Studierenden im Lichthof des Henry-Ford-Baus auf.

© Heinz O. Jurisch

Studentenproteste: Das erste deutsche Sit-in fand in Dahlem statt

Vor 50 Jahren kam an der Freien Universität Berlin eine damals neue Protestform aus den USA zum Einsatz.

An der Freien Universität Berlin ereignete sich am 22. Juni 1966 Ungeheuerliches: Aus Protest gegen eine Einschränkung der studentischen Rechte auf ein selbstbestimmtes Studium versammelten sich 3000 Studenten vor und in dem Henry-Ford-Bau der Freien Universität zu einem „Sit-in“, dem sich ein sogenanntes „Teach-in“ anschloss.

Die neue Protestform des zivilen Ungehorsams übernahmen die Berliner Studenten aus der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten. Dort hatten am 1. Februar 1960 afroamerikanische Studenten in Greensboro (North Carolina) in einem Restaurant der Woolworth-Gruppe gegen die Rassentrennung protestiert, indem sie an einer Theke, die für Weiße reserviert war, Platz genommen und der Aufforderung, sich zu entfernen, keine Folge geleistet hatten.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von der Aktion und fand Nachahmung in zahlreichen anderen Städten der Südstaaten. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) hatte bereits 1965 in seiner Zeitschrift „Neue Kritik“ Überlegungen zu den neuen Protestformen aus Übersee durch „theoretische oder praktische Gehorsamsverweigerung“ angestellt, aber noch keine Gelegenheit zu ihrer praktischen Erprobung gefunden. Die ergab sich an diesem Junitag nun an der Freien Universität Berlin.

Die Versammelten entsandten mehrfach Delegierte in den Sitzungssaal

Um 15 Uhr begann bei herrlichem Sonnenschein die Zusammenkunft von mehreren Tausend Studenten unter den Fenstern des im ersten Stock tagenden Akademischen Senats, dessen Sitzungsaal sich damals – wie auch heute noch – im Henry-Ford-Bau der Freien Universität befand. Die Versammelten entsandten mehrfach Delegierte in den Sitzungssaal, um ihre Anliegen vorzubringen. Sie forderten unter anderem die Abschaffung der an der Juristischen Fakultät neu eingeführten Zwangsexmatrikulation nach Ablauf der Regelstudienzeit, eine drittelparitätische Besetzung der Universitätsgremien mit Professoren, Assistenten und Studenten und die Aufhebung der neuen Raumvergabe-Richtlinien, die sie als Einschränkung der Versammlungsfreiheit an der Freien Universität kritisierten. Nach diesen Richtlinien sollten Hörsäle und auch das Auditorium Maximum nur noch für Festakte, wissenschaftliche Veranstaltungen und Konzertveranstaltungen und nicht mehr für studentische Versammlungen genutzt werden können.

Um 16.15 Uhr baten der AStA-Vorsitzende Knut Nevermann und die studentische Senatssprecherin Sigrid Rüger den Rektor, mit den Studenten zu diskutieren. Rektor Hans-Joachim Lieber vertröstete sie auf einen späteren Zeitpunkt. Gegen 17 Uhr zogen die Versammelten dann in den Henry-Ford-Bau und ließen sich in der Vorhalle des Auditorium Maximum und auf der Freitreppe des Hauptgebäudes nieder. Immer wieder forderten sie den oben im Sitzungssaal des Akademischen Senats ausharrenden Rektor auf, sich der Diskussion zu stellen.

Rektor Hans-Joachim Lieber 1965 bei seiner Amtseinführung mit Willy Brandt, Regierender Bürgermeister von Berlin.

© Heinz O. Jurisch

Endlich, gegen 20.30 Uhr, erschien der Rektor mit einigen Mitarbeitern der akademischen Verwaltung. Er versicherte, er werde zu den Forderungen der Studenten „innerhalb der nächsten zehn Tage“ in internen Gesprächen mit den „gewählten Studentenvertretern“ Stellung nehmen. Eine sofortige Stellungnahme lehnte er ab. Erst, wenn man bei diesen Gesprächen „eine Brücke des Verständnisses“ finde, könnten die „anstehenden Fragen öffentlich diskutiert werden“.

Hans-Joachim Lieber, seit 1955 Professor für Philosophie und Soziologie an der Freien Universität, bat die Demonstranten sodann „herzlich und inständig“, die Protestversammlung nunmehr aufzulösen und wegen der baupolizeilichen Vorschriften die Halle zu verlassen. Anderenfalls wären für Studenten und Professoren der Universität „unangenehme Folgen“ zu erwarten. Doch die Versammelten harrten bis nach Mitternacht aus und setzten ihre Diskussion fort.

Fast zehn Stunden lang traten Studenten und Professoren ans Mikrofon

Knut Nevermann, der die Veranstaltung damals noch in Schlips und Kragen moderierte, ist noch heute über deren Verlauf erstaunt. Fast zehn Stunden lang traten nacheinander Studenten und Professoren in einem Teach-in ans Mikrofon und sprachen über hochschul- und allgemeinpolitische Fragen. Nevermann, zu dieser Zeit Mitglied des Sozialdemokratischen Hochschulbundes (SHB) und später unter anderem Amtschef beim Staatsminister für Kultur und Medien in der Bundesregierung Schröder und zuletzt bis zu seinem Ruhestand Staatssekretär in der Berliner Wissenschaftsverwaltung, sieht heute in dem Sit-in an der Freien Universität den Beginn des Aufbruchs, der letztlich zu einer tiefgreifenden Veränderung der deutschen Nachkriegsgesellschaft führte. Es wehte fortan ein neuer Wind durch Westdeutschlands Universitäten.

Knut Nevermann, damals Student und AStA-Vorsitzender der Universität.

© Erich Raillon/Universitätsarchiv

Was Außenstehenden als spontane studentische Aktion erschien, war gut vorbereitet. Das damalige SDS-Mitglied Tilman Fichter erinnert sich, mit welch diplomatischem Geschick es den Verhandlungsführern der linken Studentenorganisationen gelang, 23 damals aktive studentische Organisationen bis hin zu den stramm konservativen Burschenschaften in einem „Aktionskomitee FU“ zusammenzuschließen und in die Protestaktion einzubeziehen. Vertreter all dieser Gruppen traten im Verlauf des Sit-ins ans Mikrofon und gaben Stellungnahmen ab. Telegrafisch trafen Solidaritätserklärungen von prominenten Professoren aus westdeutschen Universitäten ein und wurden unter großem Beifall verlesen.

Zu den Unterstützern des Berliner Protests gehörten damals der Politologe Wolfgang Abendroth (Marburg), der Soziologe Hans Paul Bahrdt (Göttingen), der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas (Frankfurt am Main), der spätere Innenminister Werner Maihofer (Saarbrücken), der Soziologe Heinz Maus (Marburg) und der Philosoph Max Bense (Stuttgart). Auch der Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) und mehrere Studentenvertretungen westdeutscher Universitäten übersandten „Grußadressen“ an das Berliner Sit-in. Siegward Lönnendonker, damals Mitglied des SDS, erinnert sich noch heute begeistert an den Auftritt des Kabarettisten Wolfgang Neuss, der vor dem Henry-Ford-Bau „Das jüngste Gerücht“ aus seinem Programm vortrug. Für Lönnendonker war es eine prägende Erfahrung zu erleben, dass „wir plötzlich so viele waren, die es wagten, gegen die Maßregelungen der Universitätsbürokratie zu protestieren“.

Auch Walter Momper und Rudi Dutschke waren unter den Protestlern

Unter den vielen, die am 22. Juni 1966 auf dem Boden saßen, befand sich auch der damalige Politologiestudent und spätere Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, und in der Diskussion sprach erstmals ein kaum bekannter Soziologiestudent namens Rudi Dutschke vor einer großen Zuhörerschaft.

Gegen 0.45 Uhr beendete Nevermann in aller Form das Sit-in. Zuvor stimmten die Versammelten einer Resolution zu, in deren Präambel es hieß: „Was hier in Berlin vor sich geht, ist ebenso wie in der Gesellschaft ein Konflikt, dessen Zentralgegenstand weder längeres Studium noch mehr Urlaub ist, sondern der Abbau oligarchischer Herrschaft und die Verwirklichung demokratischer Freiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen.“

Mit dem Sit-in vom Juni 1966 trat nicht nur die Auseinandersetzung um die Reform der westdeutschen Universitäten in ein neues Stadium. Das Ereignis, über das die Medien bundesweit ausführlich berichteten, machte die Freie Universität mit einem Schlag zu einem „Place to be“ für eine ganz neue Studentengeneration.

Der Autor ist Projektleiter beim Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin. In mehreren Veröffentlichungen hat er sich auch mit der Geschichte der Studentenbewegung befasst.

Jochen Staadt

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