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Interview: "Das Geschlecht ist komplex"

Die Genderstudies ordnen sich neu: Die Münchner Soziologin Paula Villa erklärt, was Bücher wie "Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken" über die Geschlechter aussagen - und warum sich der Feminismus noch nicht überflüssig gemacht hat.

Frau Villa, bundesweit gibt es mehr als 50 Zentren für Geschlechterforschung an Hochschulen, und seit 2006 sind sie in einem Dachverband, der „Konferenz der Einrichtungen für Frauen- und Geschlechterstudien im deutschsprachigen Raum“ (KEG) zusammengeschlossen. Warum gründen Sie jetzt noch eine „Fachgesellschaft Geschlechterstudien“?



Bisher sind die Zentren institutionell vernetzt. So denkt die KEG darüber nach, wie sich die Geschlechterforschung in die Bologna-Reform eingliedern lässt. Uns geht es jetzt um einen Verband, der vor allem die inhaltliche Arbeit und die Forschung sichtbar macht. Darüber hinaus wollen wir auch eine Struktur schaffen, die es erlaubt, uns als Fach zu etablieren und sichtbarer für Drittmittelgeber zu werden.

In Deutschland wurde die erste Professur mit Geschlechterschwerpunkt 1985 an der FU Berlin eingerichtet – ein Verdienst der zweiten Frauenbewegung. Sind Professorinnen mit einem Schwerpunkt „Gender“ heute akademisch anerkannt?

Das ist eine sehr zwiespältige Sache. Einerseits gibt es durchaus eine institutionelle Anerkennung. Geschlecht hat sich als eine Kategorie in der Wissenschaft etabliert. Allerdings werden die Lehrstuhlinhaber- und -inhaberinnen oft behandelt wie veredelte Gleichstellungsbeauftragte: Wir sollen den Universitäten helfen, exzellent zu werden. Denn unter dem Druck der Internationalisierung ist das Merkmal „Geschlecht“ wichtig geworden. Die DFG hat sich sehr positiv eingemischt, indem sie mehr Beteiligung von Frauen an Forschungsprojekten fordert. Das ist aber sehr technokratisch angelegt und berücksichtigt nicht die wissenschaftliche Expertise in Geschlechterfragen. So geht die institutionelle Anerkennung oft mit wissenschaftlicher Abwertung einher. Dem muss man offensiv begegnen. Ich sage in jeder akademischen Sitzung: Geschlechterforschung ist mehr als nur Gleichstellung.

Seit den neunziger Jahren hat sich die Geschlechterforschung besonders mit der amerikanischen Philosophin Judith Butler auseinandergesetzt. Butler vertritt die radikale These, dass die Unterscheidung zwischen Mann und Frau vornehmlich ein soziales Konstrukt ist. Gibt es neue theoretische Paradigmen, die seither hinzugekommen sind?

Ja, die gibt es. Nach wie vor ist Butler eine ganz zentrale Autorin, aber ich denke, dass die große Zeit der Butler-Euphorie vorbei ist. Butler war ein Fall von Hegemonie, alle mussten sich auf sie beziehen. Aber es hat natürlich auch vor und neben ihr andere, zum Teil viel differenziertere Ausführungen der „Konstruktionshypothese“ gegeben. Inzwischen ist in der Geschlechterforschung anderes wieder viel stärker in den Vordergrund gerückt, etwa die Frage nach Ungleichheit, nach gesellschaftlicher Inklusion, nach ökonomischen Verhältnissen. Das Thema Arbeit beschäftigt uns sehr. Ein wichtiges Theorem ist hier „Prekarisierung“, das heißt das „Prekär“-Werden von Biografien und ganzen Schichten durch unsichere Arbeits- und Lebensbedingungen. Auch die Untersuchung neuer Migrationsprozesse ist Teil der neueren Forschung, immer mit der Frage: Wie ist Geschlecht daran beteiligt?

Ein Begriff, der seit einiger Zeit oft fällt, ist „Intersektionalität“, also das Zusammenspiel der Faktoren Ethnizität, Klasse und Geschlecht. Allerdings wurde von „race, class and gender“ schon viel früher gesprochen, vor allem in der US-amerikanischen Frauenforschung. Was ist jetzt neu daran?

Vieles daran ist gar nicht so neu, die Betonung von „race, class and gender“ ist ein roter Faden der Geschlechterforschung. Wir erleben jetzt eine Fortsetzung der älteren Debatten, die in Deutschland viel verzagter geführt wurden als in den USA. Doch der Zusammenhang von ethnischer Zugehörigkeit, von Klasse und Geschlecht muss immer wieder neu und vor allem entlang der aktuellen gesellschaftlichen Situation bestimmt werden. Wir leben heute schließlich in einer anderen Welt als vor 30 Jahren. Es geht auch immer darum, sich über die strukturellen Trennlinien der Moderne klar zu werden: Aufgrund welcher Unterscheidungen – eben weiß oder schwarz, arm oder reich, Mann oder Frau – entstehen Machtverhältnisse und Hierarchien?

Wie kann man sich eine Intersektionalitätsstudie konkret vorstellen?

Es gibt zum Beispiel viele Untersuchungen im Bereich Schule, etwa Pisa. Wenn Sie empirisch verstehen wollen, wie sich Schulleistungen ergeben, können Sie sich nicht nur auf ein Merkmal konzentrieren. So können wir nicht generell sagen: Mädchen sind in den letzten Jahrzehnten in Deutschland Bildungsgewinnerinnen und Jungen sind Bildungsverlierer. Das stimmt zwar irgendwie, aber es stimmt eben nicht in dieser pauschalen Allgemeinheit. Die anderen Faktoren – Familienhintergrund und Herkunft – müssen mitbedacht werden. Wir alle sind geprägt von Mehrfachpositionierungen.

Wie steht es um die Gretchenfrage „Körper“ in den Genderstudies? Unter dem Einfluss von Judith Butler hat man den biologischen Aspekt von Geschlecht ausgeblendet. Spielt der Körper in der Genderforschung heute eine andere Rolle?

Es gibt in der Geschlechterforschung den Grundkonsens, dass man nicht naiv von einem angeblich „natürlich“ vorhandenen, rein physiologisch bestimmten Geschlecht ausgeht. Dieser Grundkonsens steht weiterhin fest, allerdings in vielen Schattierungen. Inzwischen haben verschiedene Fachdisziplinen wie Geschichtswissenschaft, Kulturwissenschaft oder Soziologie aber geradezu einen „body turn“ vollzogen. Leitend ist derzeit die Frage, wie und wovon der Körper regiert, beherrscht und geformt wird. So untersuchen wir die Entgrenzung der Medizin. Ehemals medizinische Verfahren mutieren heute zu Wellness und Lifestyle. Der Schönheitsboom – oder das, was da Schönheit genannt wird – macht ehemals Medizinisches zu einer Sache von Kosmetik, etwa in der plastischen Chirurgie. Und das wiederum betrifft die Gestaltbarkeit des geschlechtlichen Körpers. Der Körper wird also vor allem in Hinsicht auf das diskutiert, was man heute „Biopolitik“ nennt. Das heißt, was ehemals emanzipatorische Selbstermächtigung war – den Körper in die eigene Hand zu nehmen –, das wird heute zunehmend zu einem Gebot der Optimierung.

Das Verhältnis der Genderstudies zu den Naturwissenschaften war in der Vergangenheit oft durch gegenseitige Ignoranz geprägt. Wie sieht das heute aus?

In der Geschlechterforschung nehme ich derzeit Offenheit wahr, sich mit Naturwissenschaften zu beschäftigen. Denn diejenigen, die etwas davon verstehen, wissen, dass die Naturwissenschaften nicht naiv mit Physiologie umgehen. Oft haben die Sozialwissenschaften da einen Pappkameraden aufgebaut, als würden Biologie, Chemie und Medizin die Geschlechter in platter Weise vereindeutigen. Aber so naiv sind die Naturwissenschaften schon lange nicht mehr. Das Problem liegt eher bei den populärwissenschaftlichen Publikationen. Es sind eher die Feuilletons und Wissenschaftsseiten der Zeitungen, die krude in einem „naturalistischen“ Sinne argumentieren, anders als die Forschung selber.

Manchmal hat man den Eindruck einer Schizophrenie: Innerhalb der Universitäten herrschen progressivste Sichtweisen über Geschlecht, im Alltag aber bleibt vieles beim Alten. Klischees bedienende Bücher wie „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ finden reißenden Absatz. Wie schätzen Sie die gesellschaftliche Wirkung der Genderstudies ein?

Ich würde die Flut an populärer Männer- und Frauenliteratur eher als Reaktion auf eine Verunsicherung und Enttraditionalisierung deuten. Wenn alles klar wäre mit den Geschlechtern, bräuchte man diese ganzen Bücher ja nicht. Es gibt aber derzeit sehr wenig Sicherheit, gerade in Hinblick auf Elternrollen kann man das beobachten. Aber auch in Körperfragen besteht eine enorme Verunsicherung: Wie soll man als Frau, als Mann aussehen? Die Logik des Alltags ist nach wie vor durch die Chiffre Mann/Frau geprägt. Das ist auch verständlich, denn der Alltag ist nicht der Ort, an dem man die Dinge in der Schwebe lassen und sagen kann: Denken wir mal drüber nach. Der Ort des Nachdenkens ist die Wissenschaft.

Der Feminismus war einmal angetreten, sich selber überflüssig zu machen, nämlich dann, wenn Gleichberechtigung erreicht sei. Ist es auch das Ziel der Genderstudies, die Geschlechter und damit schließlich sich selbst aufzuheben?

Nein, das würde ich nicht so sehen. Das Ziel ist vielmehr, den Blick für die Komplexität des Geschlechts zu öffnen. Ich würde unsere Aufgabe so formulieren: Es geht darum, angemessenere Wirklichkeitsanalysen zu liefern. Wenn wir von Arbeit sprechen, wenn wir von Armut sprechen, wenn wir von Film oder Gesundheit oder wovon auch immer sprechen, können wir nie vom Geschlecht schweigen. Alles hat eine geschlechtliche Dimension.

Die Fragen stellte Andrea Roedig.

PAULA-IRENE VILLA  (Jg. 1968) ist Professorin für Soziologie/Genderstudies an der Universität München und Mitinitiatorin der Fachgesellschaft Geschlechterstudien.

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