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Bau der Golden Gate Bridge 1936: ein Symbol der Verbindung zwischen dem alten Asien und dem jungen Amerika.

© Charles M. Hiller

Einblicke in Pazifikforschung: Das große neue Mittelmeer

Furcht und Hoffnung: Wie die Deutschen von 1900 bis 1945 auf den Pazifik blickten.

Mare Nostrum, unser Meer, nannten die Römer das Mittelmeer. Für die Europäer war es der Mittelpunkt der Welt. Als Entdecker die anderen Kontinente ausmachten und europäische Eroberer sie kolonisierten, spielte zunächst der Atlantik diese Rolle. Erst im frühen 20. Jahrhundert änderte sich das, als allmählich der Pazifik dem Mittelmeer und dem Atlantischen Ozean als gefühlten Zentren der Weltpolitik Konkurrenz zu machen drohte.

Der Pazifik ist aus deutscher Sicht das neue Mare Nostrum in Konkurrenz und Kooperation der großen Anrainerstaaten: So lautet die These von Transpacifica, einem Forschungsprojekt an der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule der Freien Universität Berlin und der Faculty of Letters der Universität Tokio. Stefan Keppler-Tasaki, Germanistik-Professor in Tokio sowie Einstein Visiting Fellow an der Freien Universität, leitet das Projekt in Kooperation mit Irmela Hijiya-Kirschnereit, Professorin für Japanologie an der Freien Universität.

Gemeinsam mit den promovierten Germanisten Johannes Görbert und Tomas Sommadossi, zuletzt auch von dem Doktoranden Hosung Lee unterstützt, hat Stefan Keppler-Tasaki in den vergangenen zwei Jahren eine Quellenedition erstellt. Sie erfasst, wie in Deutschland von 1900 bis 1945 über das Beziehungsgeflecht zwischen China, Japan und Amerika gedacht wurde: In Romanen und Erzählungen, in Drehbüchern und Dramen, in den Analysen der Tageszeitungen, in politischen Büchern, in Reiseberichten und in der Wissenschaft.

In den 1920er Jahren erhofften sich Intellektuelle Impulse aus China

Heute sind China, Japan und die USA die drei führenden Volkswirtschaften der Erde, doch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahmen die Länder eine herausragende Stellung ein. Die USA hatten die Expansion an ihrer Westküste abgeschlossen, richteten den Blick nun auf den Pazifik – und etablierten sich mit der Annektierung von Hawaii und mit Ansprüchen an China als imperialistische Macht. Japan hatte seine Isolation beendet, kolonisierte zuerst Korea, dann die chinesische Mandschurei und gewann 1905 zur großen Überraschung europäischer Beobachter den Russisch-Japanischen Krieg.

Während Japan und die USA zu führenden Mächten in der Weltpolitik aufstiegen, gewann China in Deutschland vor allem kulturell an Bedeutung: In der Literatur zog das „Reich der Mitte“ die deutsche Leserschaft in den Bann. Der sogenannte Chinaroman, der in China spielt und dessen Protagonisten Chinesen sind, kam in Mode, angestoßen von Alfred Döblin, der 1916 mit „Die drei Sprünge des Wang-lun. Ein chinesischer Roman“ sein Romandebüt veröffentlichte. „Der chinesische Protagonist wird da nicht als etwas Exotisches betrachtet, sondern ist ein Held, mit dem wir fühlen und leiden“, sagt Stefan Keppler-Tasaki.

Gerade unter der politischen Linken habe sich in der Weimarer Republik eine Sinophilie ausgebreitet, ein liebevolles Interesse an China. „Viele linke Intellektuelle, darunter Alfred Döblin, Bertolt Brecht und Walter Benjamin, erhofften sich von China einen humaneren Kommunismus“, denn schon in den 1920er Jahren habe sich der Stalinismus als gefährlich entpuppt, sagt Stefan Keppler-Tasaki. Auch bürgerliche Denker interessierten sich für China. In der hierarchiebewussten Moral des Konfuzianismus fanden sie ein Wertesystem, das für sie neu und unverbraucht war. Das habe nach der Erfahrung des Ersten Weltkrieges Halt gegeben: „Es stellte sich der Eindruck ein, dass die sogenannte aufgeklärte Kultur Europas völlig versagt hat“, sagt Stefan Keppler-Tasaki.

Die Deutschen hatten Angst, an den Rand gerückt zu werden

In der Politik sind es vor allem die Beziehungen zwischen Japan und den USA, die deutsche Kommentatoren beschäftigten. Jahrzehntelang seien sie eines der beherrschenden Themen in deutschen Tageszeitungen gewesen, berichtet Stefan Keppler-Tasaki: Werden die USA und Japan mächtige Bündnispartner werden, die Europa überschatten? Oder droht ein großer japanisch-amerikanischer Krieg? Die Debatten ähnelten denjenigen über das Verhältnis der USA zu China heute. „Wir arbeiten nur bis 1945, aber wir spüren immer die Aktualität“, sagt Stefan Keppler-Tasaki. „Ein Großteil dessen, was wir diskutieren, hat einen Resonanzraum in der Gegenwart.“

Auch politische Bücher beleuchteten das Thema. „Für Menschen aus allen Teilen des weltanschaulichen Spektrums war es zu dieser Zeit obligatorisch, zur transpazifischen Frage Stellung zu nehmen“, sagt Stefan Keppler-Tasaki. Die Pazifistin Bertha von Suttner habe sie in einem Buch mit dem Titel „Der Kampf um die Vermeidung des Weltkrieges“ behandelt. Auch in Hitlers „Mein Kampf“ gebe es Passagen, die sich mit den Beziehungen über den Pazifik auseinandersetzen. „Alle Theoretiker und Weltanschauer – Kommunisten, Faschisten, Völkerbiologen, Missionare, Pazifisten – mussten eine Antwort auf die Großmachtbeziehungen am Pazifik haben“, sagt Stefan Keppler-Tasaki.

Die Beobachtungen verraten vieles über die Identitätssuche der Deutschen. Lange habe man sich im Zentrum der Welt gewähnt, als „Herz der Völker“ und Treffpunkt zwischen Ost und West, doch plötzlich sei die Angst aufgekommen, an den Rand gerückt zu werden, sagt Stefan Keppler-Tasaki. „Die deutschen Befindlichkeiten vom späten Kaiserreich an und erst recht nach dem Ersten Weltkrieg waren hochsensibel. Man war sich unsicher über seinen Platz in der Welt.“

Das Kräftemessen zwischen den USA und Japan tritt schließlich tatsächlich ein, der Pazifik wird zu einem der blutigsten Schauplätze des Zweiten Weltkrieges. Mit dem Atombombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki folgt in den letzten Kriegstagen eine Zäsur der Weltgeschichte. Tomas Sommadossi, der die unmittelbaren Reaktionen aus Deutschland auf den Einsatz der Nuklearwaffen untersucht hat, sieht in der Auseinandersetzung eine neue Dimension. Statt um Geopolitik und kulturelle Vormacht sei es um größere Themen gegangen. „Die Reflexion über die Atombombe ist keine historische Reflexion mehr. Es ging nicht mehr um Japan und Amerika, sondern um die Zukunft der Menschheit“, sagt Tomas Sommadossi. „An die Stelle internationaler Politik trat Überlebensangst.“

Jonas Huggins

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