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Reine Lehre. Als Nationalphilologie muss das Fach sich erst wieder neu finden. – Im Bild wischt eine Reinigungskraft im Deutschen Literaturarchiv Marbach zwischen Büsten berühmter Autoren, darunter Thomas Mann, Uwe Johnson und Thomas Bernhard.

© Andreas Teichmann/laif

Germanistik in der Krise: Das Niegelungenlied

Die Germanistik kann es sich selbst nicht recht machen, ständig sieht sie sich in der Krise. Jetzt diskutierten Experten auf einer Tagung in Hannover Perspektiven.

Zum Selbstbild der Germanistik gehört es, sich als dauerkranke Patientin zu betrachten. Ständig fühlt sich das Fach irgendwie schlecht, mal zwickt es hier, bald drückt es dort. Konferenzen zur Lage der Germanistik gleichen darum immer einer ärztlichen Visite am Krankenbett, in der das aktuelle Ausmaß des Leidens diagnostiziert werden soll. So war es auch in der vergangenen Woche in Hannover: „Nach der Theorie, jenseits von Bologna, am Ende der Exzellenz? Perspektiven der Germanistik im 21. Jahrhundert“ lautete das Thema. Der Befund war wie sonst nach ähnlichen Veranstaltungen: Ja, das Fach hat manches Zipperlein, aber es neigt wohl auch ein bisschen zur Hypochondrie. Womöglich ist die Germanistik einfach zu deutsch, um nicht ständig über ihren Zustand zu grübeln.

„Wir sollten nicht denken, unser Wissen sei nicht mehr relevant“, sagte der Bonner Germanist Jürgen Fohrmann ermutigend. In der Tat: Die Studierenden stimmen mit den Füßen immer noch massenhaft für die Germanistik ab. Mit 80 000 Studierenden ist sie das drittgrößte Fach. Auf dem Jobmarkt schlagen sich die Absolventen gut. Sogar den Deutschlehrern unter ihnen, in früheren Jahrzehnten zum Taxifahren verurteilt, winken gut bezahlte Arbeitsplätze in der Schule. Dass das Fach sich für die Bedürfnisse seiner vielen Lehramtsstudierenden nicht wirklich interessiert, wie Karl Track, der Gastredner vom bayrischen Philologenverband beklagte, dürfte die meisten Germanistik-Professoren nicht umtreiben: Das war immer so. Das professorale Interesse gilt nun einmal vor allem dem wissenschaftlichen Nachwuchs.

Die Germanisten quälen eher große wissenschaftstheoretische Fragen. Ja, das germanistische Wissen wird gut nachgefragt. Aber worin besteht dieses germanistische Wissen überhaupt? Schließlich ist die germanistische Forschung heterogen wie nie zuvor und trägt an einem inzwischen recht unhandlichen Werkzeugkoffer mit allerlei Methoden und Theorien.

Doch eben hier hat die Germanistik eins ihrer früheren Probleme inzwischen abgeräumt, wie in Hannover deutlich wurde. Der Methodenpluralismus, der vor Jahren noch für erhitzte Streitereien gesorgt hatte, ist in ein neues Stadium eingetreten – in das des Pragmatismus. Die unendliche Vielfalt an möglichen methodischen Zugriffen auf einen Text (sozialgeschichtlich, dekonstruktivistisch, systemtheoretisch), die immer kürzere Abfolge von Richtungswechseln, den sogenannten turns (linguistic, iconic, spatial turn), beschrieb Oliver Jahraus (München) positiv als „ziemlich großes Paket an Theorieaktien“. Je nach Konjunktur steige mal die eine, mal die andere Aktie – normales Börsengebaren, das eine souveräne „Methodenintegration“ (Claudia Stockinger, Göttingen) erlaube. Für eine Analyse des eigenen Fachs gelte es heute vielmehr zu untersuchen, welche historischen Zäsuren welche Methoden hervorgebracht haben.

Eben das tat Jürgen Fohrmann, um die Ur-Krise der Germanistik zu illustrieren, nämlich ihre Krise als Nationalphilologie. Seit dem Kaiserreich hatte das Fach Deutsch die klassischen Philologien Latein und Griechisch als „Mittelpunktfach“ abgelöst. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe man ihm eine zentrale Position zugewiesen, indem man es als „Ort für die Einübung einer kritischen Haltung“ verstand. Bis in die 1980er Jahre war die Germanistik ein „nationaler Bezugsrahmen“, der insbesondere die Ereignisse des 20. Jahrhunderts reflektieren helfen sollte. „Zweihundert Jahre lang hatte die Germanistik eine identitätsstiftende Funktion“, sagte Fohrmann.

Doch mit der „Transformation von der National- zur Weltgesellschaft“ funktionierten nationale Rahmen nicht mehr als Angelpunkt. Die ökonomischen Märkte, die politischen Bündnisse seien heute global strukturiert. Geschichte und Kultur werde zunehmend als „Reservoir“ begriffen, nicht aber als konstitutiv für eine nationale Identität. Als Symptom dafür machte Fohrmann die methodische Hinwendung der Fachvertreter zur Narratologie aus. Da „die ,Nation’ als Referenzrahmen“ entfällt, wenden sie sich schon seit Jahrzehnten der Struktur eines Textes zu, der soziale Rahmen rückt in den Hintergrund. Der Verlust der „Nation“ zeige sich auch an der Internationalen Germanistik. Hätten sich die Germanisten im Ausland früher in Bezug auf den deutschen Diskurs positioniert, sei das heute „längst nicht mehr der Fall“. „Unsere Community ist nicht weltweit organisiert, wie das in den Naturwissenschaften, etwa der Teilchenphysik, selbstverständlich ist“, sagte Fohrmann.

Die Germanistik ist nicht mehr mit sich selbst identisch. Und sie droht in ihre Bestandteile zu zerfallen. Das wird sogar schon beim Zuschnitt ihrer Teilfächer deutlich. Klassischerweise teilen sich die Germanistischen Institute der Universitäten in die drei Abteilungen Linguistik, Ältere sowie Neuere deutsche Literatur. „Wie selbstverständlich kommen die Linguisten bei dieser Tagung nicht vor“, bemerkte der Altgermanist Peter Strohschneider (München). Die empirische und kognitive Sprachwissenschaft sei heute über einen philologischen Textbegriff hinaus, befasse sich mit völlig anderen Forschungsgebieten. Ein Dialog sei kaum mehr möglich. Das liege auch an einer Wissenschaftspolitik, die Doppeldenominationen – etwa Lehrstühle für mittelalterliche Literatur und Sprachgeschichte – als „ineffizient“ bewertet habe und die Ansammlung spezialisierter Einzelgebiete privilegiere.

Strohschneider sieht „eine Disjunktion von Sozial- und Wissensordnungen sowie von Lehre und Forschung“: Während die Germanistik institutionell als einheitliche Größe dastehe, zeige sich das Fach selbst als Aggregat unterschiedlicher Wissensfelder, „die nicht mehr auf denselben Horizont referieren“. Doch während darum die Spezialisierung von Forscherverbünden voranschreite, werde diese Realität in der Lehre verleugnet. Wer heute einen Bachelor in Germanistik macht, bewegt sich irgendwo zwischen mittelhochdeutschen Ablautreihen, Literatur der klassischen Moderne und Neurolinguistik: „In der Lehre dominiert unverändert eine Einheitsfiktion von Literatur- und Sprachwissenschaft“, kritisierte Strohschneider.

Ob die alte Ehe zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik fachlich und institutionell wirklich vor der Scheidung steht, darüber waren die Wissenschaftler auf der Tagung uneins. Wiederholt gestanden sie ein, nur noch das jeweils eigene Teilfach überblicken zu können: „In der gegenseitigen Nichtwahrnehmung sehe ich eine selbstverschuldete Verarmung unseres Fachs“, sagte Jörg Kilian, Vorsitzender des Deutschen Germanistenverbandes. Claudia Stockinger hielt ein Plädoyer, „die Tagungen, Forschergruppen, Flurgespräche zwischen den Disziplinen, die durchaus stattfinden“, auch wahrzunehmen. Steffen Martus (Berlin) warnte hingegen, die Germanistik „mit Homogenitätsforderungen zu überfrachten, schließlich zerfallen auch andere Fächer in Subdisziplinen“.

Aus Sicht von Jürgen Fohrmann führt die Spezialisierung in der Germanistik aber paradoxerweise nicht zu einer größeren Diversifizierung, sondern im Gegenteil zur inhaltlichen und methodischen Verarmung. Aus der extrem gewachsenen Teilnehmerzahl am Diskurs ergebe sich ein personelles und inhaltliches „Flaschenhalsproblem“, dem die Germanistik zunächst mit einer „Steigerung“ begegnet sei: „Noch mehr Forschung, noch mehr neue Perspektiven.“ Das sei im Einzelfall zwar fachlich bereichernd, doch sozial und systemisch sei die Germanistik damit in einen Zustand „schierer Komplexität“ (Luhmann) hineingelaufen.

Die Forscher retteten sich mit einer energischen Komplexitätsreduktion, die Fohrmann als „doppelte Klassik“ bezeichnete. Überfordert von der auf sie einstürzenden (Forschungs-) Literatur reagierten sie mit einer Konzentration auf wenige große Autoren (wie Goethe, Lessing, Kafka) und Theoretiker (wie Benjamin, Derrida, Agamben): „Damit schrumpft unser kultureller Horizont.“

Fohrmann plädierte dafür, sich gegen die Abschaffung der Nationalphilologien zu wenden – wie sie sich institutionell etwa in der drohenden Streichung des letzten altgermanistischen Lehrstuhls in Großbritannien an der Universität Oxford zeige. Stattdessen sollten die Nationalphilologien „selbstbewusst neu justiert werden“, liege ihre Leistung doch nicht zuletzt in der Archivierung: „Nichts wäre verhängnisvoller als das Löschen der nationalen Gedächtnisse.“ Gibt die Germanistik ihr reichhaltiges Fachwissen auf, sagte Fohrmann, „dann gibt sie alles auf“.

Sämtliche Vorträge und Podiumsgespräche sind in Kürze als Audiodatei unter www.perspektiven-der-germanistik.de abrufbar.

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