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Wissen: Die Menschenwürde ist antastbar

Psychologe Steven Pinker: Der Begriff ist überholt.

„Die Menschenwürde ist unantastbar“ lautet der erste Satz von Artikel eins des Grundgesetzes. Damit macht die Verfassung die Achtung der Würde des Menschen zum wichtigsten ihrer Grundsätze.

Auf den ersten Blick klingt dieser Satz unumstößlich und so „würdevoll“, dass er selbst unantastbar scheint. Aber genau das stellt nun der Harvard-Psychologe Steven Pinker in Frage. „Würde“, sagt Pinker, „ist ein schwammiger, subjektiver Begriff, der seinem schwerwiegenden moralischen Anspruch nicht gerecht wird.“ In einem Aufsatz in der Zeitschrift „The New Republic“ kommt der Buchautor („Das unbeschriebene Blatt“) zu dem Schluss, dass „Würde“ ein weitgehend nutzloses Konzept ist.

Pinker geht es in seiner Kritik nicht so sehr um den Gebrauch des Wortes in Religion und Politik, sondern um seine Ausweitung auf die moderne Biomedizin, etwa die künstliche Befruchtung, Stammzellforschung oder das therapeutische Klonen. Scharf greift er Leon Kass von der Universität Chicago an, den konservativen Chef des Bioethik-Rats des amerikanischen Präsidenten.

Kass hat vor kurzem eine Aufsatzsammlung des Gremiums zum Thema „Menschliche Würde und Bioethik“ herausgegeben. Für Pinker der Höhepunkt bei dem Versuch, die Würde in das Zentrum der Bioethik zu stellen. Sie werde damit zur potenziellen Waffe gegen Wissenschaft und Medizin.

„Selbst wenn eine neue Technik Leben und Gesundheit verbessern und Leiden und Verschleiß verringern würde, müsste diese zurückgewiesen oder sogar gesetzlich verboten werden, wenn sie einen Angriff auf die Menschenwürde darstellt“, lautet in Pinkers Worten das zentrale Argument der häufig christlich inspirierten Moralexperten um Leon Kass. Eigentlich aber sei es der größte Verstoß gegen die Menschenwürde, wenn in ihrem Namen der medizinische Fortschritt behindert werde, stellt Pinker fest.

Alle Versuche, „Würde“ klar zu umreißen, seien als weitgehend gescheitert anzusehen, meint Pinker und verweist auf Widersprüche. Sklaverei und Erniedrigung seien moralisch falsch, weil sie Menschen die Würde raubten. Andererseits werde immer darauf verwiesen, dass selbst die Versklavung Menschen nicht um ihre Würde bringen könne.

Würde verbinde sich mit Exzellenz, Strebsamkeit und Gewissenhaftigkeit, sei also ein Vorrecht, das nicht jedem zukomme. Und doch sei jedermann, wie träge, bösartig oder geistig gestört auch immer, mit voller Menschenwürde ausgestattet. Für Pinker sind es drei Merkmale der Würde, die sie als Fundament der Bioethik ausschließen:

– Würde ist relativ. Die Zuschreibung von Würde unterscheidet sich je nach Zeitalter, Ort und Betrachter. Im viktorianischen Zeitalter war es verpönt, nackte Haut zu zeigen. Für viele Patriarchen vergangener Epochen war es „unter ihrer Würde“, Geschirr abzuräumen oder mit einem Kind zu spielen. Der Ethiker Leon Kass ereifert sich, das Lecken an einer Eistüte sei schamlos und unwürdig. „Ich habe kein Problem damit“, sagt Pinker.

– Würde ist ersetzbar. Jeder entledigt sich seiner Würde freiwillig und immer wieder, wenn es um einen alltäglichen Nutzen geht. „Aus einem kleinen Auto auszusteigen ist unwürdig“, schreibt Pinker, ebenso wie körperliches Abtasten bei Flughafenkontrollen. Die moderne Medizin hat viele unwürdige Prozeduren, etwa eine Darmspiegelung. Für Leben, Gesundheit und Sicherheit lassen wir gern die Würde beiseite.

– Würde kann Schaden anrichten. Politische oder religiöse Repressionen werden oft als Verteidigung der Würde eines Staates, eines Führers oder Glaubens gerechtfertigt. Etwa bei der Fatwa gegen Salman Rushdie, dessen „Satanische Verse“ angeblich den Islam beleidigten, oder bei den Ausschreitungen wegen der dänischen Mohammed-Karikaturen. Mit der Uniform der „blauen Ameisen“ prägte Mao den Chinesen sein Konzept von Würde auf. Für Pinker ist klar: Der Preis der Freiheit besteht darin, das Verhalten anderer zu tolerieren. Auch wenn es uns unwürdig erscheint.

Pinker schließt sich der Medizinethikerin Ruth Macklin vom New Yorker Albert-Einstein-College of Medicine an. Sie hat gefordert, den Begriff der Würde durch den der persönlichen Autonomie zu ersetzen. Weil alle Menschen im Prinzip die gleiche Fähigkeit zu leiden, sich zu entwickeln, zu denken und zu wählen haben, hat kein Mensch das Recht, das Leben, den Körper oder die Freiheit eines anderen zu verletzen. Jedem Menschen ist mit Respekt zu begegnen. Vielleicht heißt es also irgendwann: „Die Autonomie des Menschen ist unantastbar.“

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