
© Mohssen Assanimoghaddam/dpa
Folgen des Klimawandels: Was, wenn der Meeresspiegel steigt – Rückzug von der Küste?
Deiche sichern seit jeher die norddeutschen Küsten. Wegen des steigenden Meeresspiegels regen Experten an, auch Alternativen zu diskutieren. Beunruhigende Nachrichten kommen zudem vom Wattenmeer.
Stand:
Wer an der Küste steht und auf das Meer schaut, kann es mit bloßem Auge nicht ausmachen – doch der Meeresspiegel steigt. Und damit auch die Überflutungsgefahr für die tiefer gelegenen Küstenregionen in Norddeutschland. Nicht nur die Nordseeküste ist betroffen, auch Regionen an der Ostsee. Dies zeigte etwa die verheerende Sturmflut im Oktober 2023, die an Schleswig-Holsteins und Mecklenburg-Vorpommerns Ostseeküste große Schäden angerichtet hat.
In den vergangenen 100 Jahren sei der mittlere Meeresspiegelanstieg an der deutschen Nordseeküste um etwa zwanzig Zentimeter gestiegen, sagen Insa Meinke und Ralf Weisse vom Institut für Küstensysteme des Helmholtz-Zentrums Hereon in Geesthacht. Das zeigten etwa Messreihen an Pegeln wie Cuxhaven oder Norderney, die zu den längsten weltweit gehörten.
Wie stark der Meeresspiegel weiter steigen wird, hänge entscheidend von den globalen Emissionen und deren Auswirkungen aufs Klima ab, erklären die Hereon-Experten. „Je nach Treibhausgasausstoß können wir für die deutsche Nordseeküste im Vergleich zum Zeitraum 1995 bis 2014 von einem Anstieg im Bereich von etwa 30 bis 120 Zentimeter bis 2100 ausgehen.“ Und: „Auch nach dem Jahr 2100 wird sich der Meeresspiegelanstieg weiter fortsetzen.“
Sturmfluten bedrohen Küstenbewohner
Mit Folgen, etwa was Sturmfluten angeht. Sie werden nach Expertenangaben höher und häufiger. Hochwasser zählt von jeher zu den größten Bedrohungen für Küstenbewohner. Schon vor mehr als Tausend Jahren schufen Siedler die ersten Erdwälle, um sich vor den Fluten zu schützen. Über die Jahrhunderte entwickelten Küstenbewohner ein effektives System aus Deichen, Sielen und Entwässerungskanälen, um sich vor Sturmfluten zu sichern. Die letzte große Sturmflut mit vielen Deichbrüchen und Toten ereignete sich im Februar 1962.
Sie führte dazu, dass viele Deiche neu berechnet und verstärkt wurden. Dies hatte zur Folge, dass etwa die sehr schwere „erste Januarflut“ 1976 zwar deutlich höher auflief, aber an der neuen Deichlinie kaum Schäden hinterließ.
Auch heute wird der Deichbau kontinuierlich verbessert, etwa mithilfe von Computermodellen und Wellenkanälen. An der Nordseeküste entstehen sogenannte Klimadeiche. Diese Bauwerke sind breiter und können bei Bedarf erhöht werden. In Niedersachsen werden die höchsten Klimadeiche laut Umweltministerium etwa zehn Meter über Normalhöhennull erreichen.
Situation im Wattenmeer ernster als bisher angenommen
An der Nordsee haben zudem die flachen Wattenmeerbereiche eine natürliche Küstenschutzfunktion: „Sie bauen die Energie von Sturmfluten und Wellen ab und dienen als natürlicher Puffer, die die Belastung an Küstenschutzbauwerken verringert“, sagt Wenyan Zhang vom Institut für Küstensysteme des Helmholtz-Zentrums Hereon. Je mehr Sedimente abgelagert werden, desto besser könne das Wattenmeer diese Funktion erfüllen. „Kritisch wird es, wenn die Sedimentation geringer wird als der Anstieg des Meeresspiegels.“
Doch genau dies zeigt eine aktuelle Studie, deren Co-Autor Wenyan Zhang ist. Die Sedimentation in den deutschen Tidebecken sei nicht mehr ausreichend, um den steigenden Wasserständen entgegenzuwirken. Nur 9 der 24 Becken in der Deutschen Bucht zeigten demnach über den Untersuchungszeitraum von 1998 bis 2022 eine Höhenzunahme, die den relativen Meeresspiegelanstieg übertraf. Betrachte man das vergangene Jahrzehnt, seien es sogar nur 4 Becken.
„Die bisherige Annahme, das Wattenmeer könne dem Meeresspiegelanstieg standhalten, wird durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse infrage gestellt“, sagt Wenyan Zhang. Die Situation sei deutlich ernster als bisher angenommen.
Rückzug aus tiefergelegenen Küstenregionen nötig?
In der Frage, wie dem Meeresspiegelanstieg zu begegnen ist, machten die Deutsche Meteorologische Gesellschaft (DMG) und die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) kürzlich einen anderen Vorschlag. Beim Extremwetterkongress im September in Hamburg forderten die Fachgesellschaften in einem gemeinsamen Aufruf politische Akteure auf, bei Anpassungen an den Klimawandel auch den Rückzug aus tiefergelegenen Küstenregionen an Nord- und Ostsee zu diskutieren.
„Das mag überraschen, aber wir sind Naturwissenschaftler und Wissenschaftler denken langfristig auf langen Zeitskalen“, sagte Klaus Richter, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Und darum gehe es beim Meeresspiegelanstieg. Es sei wichtig, sich rechtzeitig Gedanken zu machen.
Schutzgemeinschaft ist skeptisch
Die Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste (SDN) zeigte sich kürzlich in einer Stellungnahme skeptisch und zugleich vom Deichbau überzeugt. Der Verein verweist darauf, dass etwa schwere Sturmfluten zuletzt zwar mit höheren Wasserständen aufliefen, aber weniger Schäden anrichteten.
Das Leben hinter den Deichen sei heute so sicher wie nie in der Vergangenheit, sagt Bauingenieur und SDN-Vorstandsmitglied Marcus Rudolph. Laut SDN müsse man sich daher nicht mit dem Rückzug aus tieferliegenden Regionen befassen. Mit Blick auf den steigenden Meeresspiegel schlägt der Verein dagegen vor, Deichlinien zu verstärken, Lagerstätten für Klei einzurichten und in gefährdeten Deichabschnitten über eine zweite Deichlinie nachzudenken.
Das sagen Länderministerien zu den Vorschlägen
Ein genereller Rückzug aus Küstengebieten steht für Niedersachsen und Schleswig-Holstein nicht zur Debatte. Allein in Niedersachsen wären davon etwa 14 Prozent der Landesfläche, 1,1 Millionen Menschen und Sachwerte von geschätzt 200 Milliarden Euro betroffen, die durch Deiche bislang geschützt werden, teilt das Umweltministerium mit. Stattdessen müsste dann eine neue Deichlinie aufgebaut werden. „Ein Rückzug wäre daher menschlich, ökologisch, ökonomisch deutlich teurer als die Verteidigung der bestehenden Küstenlinie.“
Auch in Schleswig-Holstein gibt es Skepsis: „An der Nordseeküste und entlang der Elbe schützt eine fast durchgehende Landesschutzdeichlinie die ausgedehnten Küstenniederungen. An einzelnen Stellen Deiche rückzuverlegen, wäre hier nur in den wenigsten Fällen machbar und sinnvoll“, sagte eine Sprecherin des Klimaschutz- und Umweltministeriums in Kiel (Mekun).
An der Ostseeküste liegen dagegen viele auch kleinere Niederungen. „Dort, wo weder Siedlungen noch kritische Infrastruktur liegen, soll der Küste perspektivisch wieder mehr Raum für eine natürliche Entwicklung gegeben werden“, sagte die Mekun-Sprecherin – etwa mithilfe von Klimadeichen.
Hohe Millionensummen für den Küstenschutz
Statt auf Rückzug setzen die Länder darauf, ihre Küstenschutzsysteme aus Inseln, Deichvorländern und Deichen zu erhalten und zu ertüchtigen. Zusammen mit dem Bund wenden sie dafür jedes Jahr Millionensummen auf.
In Niedersachsen sollen es ab 2026 rund 86 Millionen Euro pro Jahr sein. In Schleswig-Holstein sind es zuletzt jährlich durchschnittlich rund 76,4 Millionen Euro gewesen, wie die Mekun-Sprecherin weiter sagte. Der weitaus größte Teil fließt dabei in Maßnahmen an Nordsee und Elbe. Hier liegen 90 Prozent der überflutungsgefährdeten bewohnten Gebiete im nördlichsten Bundesland.
Beide Küstenländer gehen davon aus, dass die Investitionen in den Küstenschutz in den kommenden Jahren noch weiter steigen werden – auch um neben Deichen auch Sperr- und Schöpfwerke zu ertüchtigen. An der Ostsee sollen zudem als Konsequenz aus der Oktoberflut 2023 neue Klimadeiche errichtet werden, wie die Mekun-Sprecherin sagt. Bislang ungeschützte Städte wie Flensburger oder Lübeck werden Küstenschutzanlagen errichten müssen.
Ostsee in vielerlei Hinsicht speziell
Die Ostsee ist durch die dänischen Straßen mit der Nordsee verbunden und folgt so in ihrem mittleren Wasserstand im Großen und Ganzen dem globalen Wasserstand, der seit 1900 um über 20 Zentimeter anstieg. „Aber die Ostsee ist in mancherlei Hinsicht speziell“, sagt Markus Meier, Physikalischer Ozeanograph am Leibniz-Institut für Ostseeforschung in Rostock-Warnemünde.
Entlang der Küste gebe es Landhebungen, die in der südlichen Ostsee und den Küstenländern Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein nahe null lägen, im Bottnischen Meerbusen zwischen Schweden und Finnland aber erheblich seien: „Das gemessene Maximum liegt bei einer Landhebung von einem Meter in den vergangenen 100 Jahren in der Nähe der nordschwedischen Stadt Skellefteå.“
Dieses Phänomen sei so in der Nordsee, wo Ebbe und Flut wesentlich stärker ausgeprägt sind, nicht anzutreffen. Die Gefährdung sei dort größer. „Vor allem, wenn Ereignisse zusammenkommen, also der globale Meeresspiegelanstieg, eine Flut plus ein extremes Windereignis, dann können sich extreme Wasserstände ausbilden“, sagt der Ozeanograph. „Das haben wir in der Ostsee im gleichen Maße nicht, weil wir diesen hohen Tidenhub nicht kennen.“
© dpa-infocom, dpa:251231-930-482831/1
Das ist eine Nachricht direkt aus dem dpa-Newskanal.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: