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Wertedebatten sind oft Abgrenzungsdebatten. Damit werden aber potenzielle Bündnispartner ausgeschlossen, was den Kampf gegen den Terror erschwert, meint der Potsdamer Sozialisationsforscher Wilfried Schubarth. Das Foto zeigt eine Demonstration der Antiislambewegung „Sbh-Gida“ im Januar 2015 in Villingen-Schwenningen.

© picture alliance / dpa

Wertedebatte und Flüchtlinge: Statt deutscher Leitkultur lieber gemeinsame Werte

Wertedebatten à la Pegida sind oft Abgrenzungsdebatten. Anstatt auf eine „deutsche Leitkultur“ zu pochen, sollte das Verbindende betont werden: die Menschenwürde und Gewaltfreiheit.

Die Weihnachtszeit ist allgemein die Zeit der Besinnung auf Werte, auf alles, was uns wichtig scheint. Doch dieser Jahr war ein ganz besonderes „Wertejahr“: Das ganze Jahr hindurch ging es um Werte, genauer gesagt um „unsere Werte“. Viele Menschen sehen diese bedroht und riefen zu deren Verteidigung auf. Doch bei diesen oft hitzigen Debatten sollten wir uns fragen, wer eigentlich und warum nach Werten ruft.

Wer ruft nach Werten und warum?

Der Ruf nach Werten wurde 2015 gleich mehrfach laut: Da waren zum Beispiel die „besorgten Bürger“, à la Pegida, die selbst ernannten „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Diese Menschen sehen durch den Flüchtlingsstrom das christliche Abendland bedroht. Welche Werte damit gemeint sind, bleibt unklar. Christliche Werte wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Mitgefühl können damit kaum gemeint sein, vielmehr zeigen sich im öffentlichen Auftreten Nationalismus, Fremdenhass und Intoleranz. Mit dieser Stimmungsmache wird der Boden bereitet für Gewalt gegen Asylbewerber sowie gegen Andersdenkende. Insofern stellen solche rechtspopulistischen Bewegungen eine ernste Gefährdung des friedlichen Zusammenlebens in Deutschland, wie in ganz Europa, dar.

Mit der Flüchtlingszuwanderung ist noch eine weitere Wertedebatte verknüpft. Dabei geht es um die Frage, wie vor dem Hintergrund unterschiedlicher religiöser und kultureller Werte die Integration der Zugewanderten gelingen kann. Ängste werden artikuliert, zum Beispiel vor patriarchalischen Frauenbildern, religiösem Fanatismus und so weiter. Die Frage, inwieweit Anpassung an „deutschen Werte“ oder die „deutsche Leitkultur“ notwendig sei, wird kontrovers diskutiert. Doch was soll „deutsche Leitkultur“ sein? Die angeblich deutschen Tugenden wie Ordnung, Sauberkeit oder Fleiß, die mit der 68er-Generation kritisch hinterfragt wurden? Oder die deutsche Wertarbeit, die nach den zahlreichen Skandalen zunehmend ins Wanken geraten ist? Oder sind christliche Werte gemeint, die in einer säkularisierten Gesellschaft, zumal in Ostdeutschland, stark an Bedeutung verloren haben?

Auch "europäische Werte" scheinen nationalen Interessen unterworfen

Oft wird „deutsche Leitkultur“ mit der Orientierung am Grundgesetz assoziiert. Doch auch hier wäre zu klären, welche Werte gemeint sind. Die Integrationsbemühungen in dieser Hinsicht, etwa die Verbreitung einer arabischsprachigen Fassung des Grundgesetzes, werden nicht ausreichen, um demokratische Bürger und Bürgerinnen zu erziehen. Allein ein ungetrübter Blick auf jahrzehntelange Bildung und Erziehung zu mündigen, gemeinschaftsfähigen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland zeigt angesichts von Extremismus und Gewalt die Grenzen politischer Bildung und Erziehung auf.

Und auch die mögliche Erweiterung einer „deutschen Leitkultur“ auf die europäische Bühne hilft nicht weiter. So zeigt sich in der jetzigen Krisensituation, dass bei aller Beschwörung der Europäischen Gemeinschaft als Wertegemeinschaft die „europäischen Werte“ letztlich auch nationalen Interessen der einzelnen Länder unterworfen scheinen. Bis zu einer europäischen Wertegemeinschaft, die mehr ist als eine ökonomische Zugewinngemeinschaft, ist es offenbar noch ein längerer Weg.

Mit dem Ruf nach Bewahrung „europäischer Werte“ ist schließlich noch eine weitere Debatte verbunden. Seit den islamistischen Terrorakten in Paris und anderen Orten sehen viele die „europäischen Werte“, die Freiheitswerte oder die westliche Lebensweise, bedroht. In den Terroranschlägen wird ein Angriff auf „unsere europäischen Werte“ gesehen und zur Verteidigung dieser Werte aufgerufen.

Freiheitswerte sind kein Privileg (West-)Europas

Glaubt man Politikern, befinden wir uns seitdem im Krieg. Das Problem dabei ist, dass auch hier nicht klar wird, was mit „europäischen Werten“ gemeint ist, und diese an eine Region beziehungsweise Kultur geknüpft werden, als seien Freiheitswerte ein Privileg (West-)Europas. Die Konstruktion von Wertebindung an Kulturen erinnert an die Kontroverse um den „Kampf der Kulturen“. Es ist offenkundig, dass eine solche Debatte potenzielle Bündnispartner ausschließt, was den Kampf gegen den Terror erschwert.

Was ist der Hintergrund für solche Wertedebatten? Die Wertedebatten sind Ausdruck einer Verunsicherung über den Wertewandel und den zunehmenden Wertepluralismus, ein Hilferuf in einer komplexer werdenden Welt. Sie sind häufig auch symbolische Debatten, mittels derer Handlungsfähigkeit demonstriert werden soll.

Da viele soziale Probleme kurzfristig nicht zu beseitigen sind, suggeriert der Ruf nach Werten einfache Lösungen. Schließlich sind Wertedebatten oft auch Abgrenzungsdebatten, mit denen andere Gruppen aus dem eigenen Wertekreis ausgeschlossen werden. Die „Wertegegner“ sind dabei austauschbar: Fremde, Muslime, Andersdenkende und andere. Ein solches dualistisches Weltbild, das ein „wir“ und die „anderen“ konstruiert, erschwert die notwendige Auseinandersetzung über Werte.

Toleranz kann ganz unterschiedlich verstanden werden

Was lässt sich aus dem Genannten ableiten? Erstens, dass es bei Konflikten nicht ausreicht, nach „unseren Werten“ zu rufen. Unter „unsere Werte“ versteht offenbar nicht jeder das Gleiche. Auch ein Wert, zum Beispiel Toleranz, kann ganz unterschiedlich verstanden werden.

Deshalb ist die konkrete Verständigung über den jeweiligen Wert notwendig. Zweitens braucht es in einer pluralistischen Gesellschaft eine angemessene Streitkultur zu Werten und Wertekonflikten. Eine solche Streitkultur ist zurzeit erst in Ansätzen erkennbar, mitunter wird sie gar als unerwünscht wahrgenommen. Und schließlich geht es drittens darum, Konstruktionen wie „unsere Werte“ oder „deutsche Leitkultur“ zu vermeiden, weil damit andere Gruppen ausgeschlossen werden. Vielmehr geht es darum, das gemeinsam Verbindende, zum Beispiel die Menschenwürde oder die Gewaltfreiheit, ins Zentrum zu rücken.

Wertedebatten sind dann sinnvoll, wenn sie Zusammenhänge und Hintergründe aufklären und gegenüber Formen von Menschenverachtung, Extremismus und Gewalt sensibilisieren. Humanistische Werte gilt es jedoch nicht nur zu proklamieren, sondern im Alltag zu leben.

- Der Autor ist Professor für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam.

Wilfried Schubarth

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