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Geschnitzte Halloweenfratzen in Kürbissen.

© dpa/Andreas Arnold

Warum wir uns so gerne gruseln: Kann Angst als Stressbewältigung dienen?

Halloween, Horrorfilme, Geisterbahnen: Gerade in unsicheren Zeiten suchen viele Menschen gezielt das Gruseln. Forschende sehen darin mehr als bloßen Eskapismus.

Von Larissa Schwedes

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Es sind diese immer kürzeren Oktobertage, in denen das Gruseln seine offizielle Hochsaison hat. Dabei sind es längst nicht nur die Halloween-Partys und schaurigen Streifzüge durch dunkle Nachbarschaften, die verraten: Das Düstere, scheinbar Gefährliche, Unberechenbare zieht viele Menschen in den Bann.

Auf Netflix & Co. haben Horrorserien wie „Wednesday“ oder die an Taten eines echten Serienmörders angelehnte Miniserie „Monster: Die Geschichte von Ed Gein“ Hochkonjunktur, in den Ranglisten der Podcast-Plattformen belegen True-Crime-Formate Top-Plätze.

Ist Gruseln nichts anderes als den Umgang mit seinen Ängsten spielerisch zu erlernen?

© imago/Westend61/imago stock&people

Und all das, während Kriege uns näher rücken, Nachrichten aus den USA manche Polit-Dystopie harmlos aussehen lassen und uns täglich Clips von Gewalt und Naturkatastrophen aufs Handy gespielt werden. Wenn die Welt um uns herum immer verstörender und ungewisser wird – ist dann nicht Zeit für Wohlfühlprogramm und romantische Komödien? Das Gegenteil scheint der Fall.

Angst als Stressbewältigung?

„Meine Prognose wäre, dass mit zunehmender Unsicherheit in der Welt oder der Wahrnehmung der Welt das Interesse der Menschen an Horror zunehmen wird“, sagt der Verhaltensforscher Marc Malmdorf Andersen von der dänischen Universität Aarhus. Seine Prognose kommt nicht von ungefähr: Der Film „Contagion“ aus dem Jahr 2011 feierte zu Beginn der Corona-Pandemie plötzlich ein unerwartetes Comeback in den iTunes-Charts – er erzählt die Geschichte eines sich rapide ausbreitenden, tödlichen Virus. 

Andersen und seine Kollegen erforschten die Verunsicherung, der sich Menschen zu Beginn der Pandemie ausgesetzt sahen, als sie noch kaum einschätzen konnten, wie gefährlich das Virus war und wie sie sich zu verhalten hatten. „Unsere Studie zeigte Anzeichen, dass Horrorfans deutlich weniger Stress verspürten als Nicht-Horrorfans. Das könnte darauf hindeuten, dass Horrorfans eine gewisse emotionale Widerstandsfähigkeit entwickelt haben“, sagt Andersen. 

Außerdem könne das Wissen, was in Extremsituationen möglicherweise passiere, weiterhelfen und beruhigen. „Horrorfans wissen also, dass, wenn es hart auf hart kommt, wenn die Zombie-Apokalypse beginnt oder wenn ein tödliches Virus freigesetzt wird, um die Menschheit auszulöschen, alle losrennen und das gesamte Benzin und Toilettenpapier aufkaufen. Das haben sie schon millionenfach passieren sehen“, so der Forscher.

Wo Angst auf Vergnügen trifft

Für Forschung wie diese haben Andersen und seine Kollegen das sogenannte „Recreational Fear Lab“ gegründet. Den Begriff „Recreational Fear“ – was sich auf Deutsch in etwa mit „Freizeitangst“ übersetzen lässt – hat das Team selbst geprägt und meint damit einen gemischten emotionalen Zustand zwischen Angst und Vergnügen. „Freizeitangst liegt vor, wenn Menschen Angst nutzen, um Vergnügen zu erleben.“

Aber ist Angst nicht etwas Negatives und die Kombination daher ein Widerspruch in sich? „Es herrscht Konsens darüber, dass Angst eine Fähigkeit ist, die wir im Laufe der Evolution entwickelt haben, um uns von Dingen fernzuhalten, die wir als gefährlich einstufen“, erklärt Andersen. „Das ist jedoch eindeutig nicht die ganze Geschichte, denn Menschen suchen Angst nicht nur bewusst. Sie wenden womöglich auch viel Energie auf, um tatsächlich in diesen Zustand zu gelangen. Sie geben Geld für Horrorfilme aus, sie geben Geld für Geisterbahnen aus, sie geben Geld für Fallschirmspringen aus. In diesem Sinne ist unser Wissen über Angst unvollständig.“

Sich einer ganz speziellen Art von Angst immer wieder freiwillig auszusetzen, bedeutet, sich der Ungewissheit auf eine Weise zu stellen, die beherrschbar ist und aus der man lernen kann.

Marc Malmdorf Andersen, Universität Aarhus.

Das Team in Aarhus kommt nach diversen Studien zu dem Schluss: Der Hauptantrieb, sich immer wieder gezielt der Angst auszusetzen, sind Neugier und Wissbegierde. „Unsere Haupthypothese lautet, dass Menschen Freizeitangst suchen, weil sie daraus lernen. Die Freude, die Freizeitangst bereiten kann, ist auf einer grundlegenden Ebene mit der Informationsverarbeitung oder dem Lernen verbunden.“

Eine Frage, viele Thesen

Die Frage, wieso wir uns so gern freiwillig ängstigen oder gruseln, beschäftigt die Forschung schon seit Jahrzehnten. Der US-Psychologe Dolf Zillmann entwickelte bereits in den 80er Jahren die Erregungs-Transfer-Hypothese, die sich am Beispiel des Gruselns beim Horrorfilm-Schauens wie folgt erklären lässt: Das Gruseln versetzt uns in einen Zustand der Spannung und Erregung – wenn der Film vorbei ist, kann dieser emotionale Zustand auf andere Situationen übertragen werden, sodass diese anders und möglicherweise intensiver wahrgenommen werden oder man sich anders verhält. 

Ein weiterer Erklärungsansatz ist einer im Fachblatt „Frontiers in Psychology“ veröffentlichten Überblicksarbeit zufolge, dass die Erregung selbst, die beim Gruseln entsteht, schon die angestrebte Belohnung sein könnte, die Menschen erleben wollen. In den 60er Jahren sei gemutmaßt worden, dass man etwa Horrorfilme weiterschaue, um den Zustand der Erregung aufrechtzuerhalten, schreibt Studienautor Neil Martin von der Regent’s University London. Andere Forscher gehen davon aus, dass insbesondere das Wissen, sich beim Gruseln tatsächlich in einer sicheren Umgebung – wie dem eigenen Sofa – zu befinden, den Genuss verstärken.

Die Suche nach dem Neuen und Intensiven

In eine ähnliche Richtung geht der Psychologe Marvin Zuckerman mit seiner Theorie des Sensation Seekings – also der gezielten Suche nach neuartigen, intensiven Empfindungen und Erfahrungen, verbunden mit der Bereitschaft, für solche Erfahrungen unter anderem physische und finanzielle Belastungen oder Risiken einzugehen. Dieses Phänomen erreiche seinen Höhepunkt im Teenager-Alter, schreibt der Londoner Forscher Martin in seiner Überblicksarbeit.

Was darf Horror? Ist es gut, das spielerische Gruseln so weit zu treiben wie der Film „Das Schweigen der Lämmer“?

© picture alliance/dpa/ZDF/Ken Regan

Es sind aber nicht nur Teenager, die sich gern gruseln. Martin schrieb im Jahr 2019, die Forschungslage lasse erkennen, dass Männer und Jungen sich stärker zu Horror hingezogen fühlten als Frauen und Mädchen. Eine Erklärung könne sein, dass Frauen sich unter anderem schneller ekelten.

Von Adrenalin-Junkies und weißen Knöcheln

Das Team um Andersen aus Aarhus hat die Horror-Fans in drei Typen eingeteilt:

  1. Die Adrenalin-Junkies: Sie genießen die Angst, während sie diese verspüren – und bekommen durchs Filmschauen somit bessere Laune.
  2. Die „White Knucklers“ („Weißknöchler“): Sie geben an, das Gefühl der Angst eigentlich nicht zu mögen – und klammern sich beim Filmschauen möglicherweise so am Sofa fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortreten, was ihnen auch ihren Spitznamen eingebracht hat. Sie schauen aber trotzdem gern Horrorfilme, weil sie nach eigener Einschätzung eine Art persönliche Weiterentwicklung dadurch erleben.
  3. Die „Dark Copers“ („Dunkelheitsbewältiger“): Sie geben an, das Anschauen von Horrorfilmen helfe ihnen, mit ihrem Leben klarzukommen – sie sind eine Mischform der beiden anderen Typen, da sie sowohl eine erlebte Persönlichkeitsentwicklung als auch bessere Stimmung erfahren.

Den Hang zur Freizeitangst haben die Forscher aus Dänemark im Übrigen in fast allen Bevölkerungsgruppen gefunden – sogar bei Kindern: In einer Befragung von 1600 Eltern gaben diese an, dass fast all ihre Kinder – 93 Prozent – Aktivitäten nachgingen, die ihnen gleichzeitig Angst wie Freude bereiteten. 

Allerdings betrachtet das Team dabei auch mehr als das von anderen Forschern oft isoliert erforschte Faible für Horrorfilme. Sie fassen unter das Ausleben von Freizeitangst auch, wenn Eltern ihre Kinder in die Luft werfen und auffangen, ihnen hinterherlaufen und so tun, als wären sie ein Krokodil – oder wenn sich Männer in der Midlife-Crisis einen Sportwagen kaufen und mit gefährlichen Geschwindigkeiten über die Autobahn rasen. 

Eine teils verängstigende Realität scheint die meisten von uns also nicht davon abhalten, sich einer ganz speziellen Art von Angst immer wieder freiwillig auszusetzen – und vielleicht damit sogar die Realität zu verarbeiten. Oft werde etwa Horror als Eskapismus bezeichnet, betont Verhaltensforscher Andersen. „Aber eigentlich bedeutet es vermutlich eher, sich der Ungewissheit auf eine Weise zu stellen, die beherrschbar ist und aus der man lernen kann.“

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