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Ungeregelt. Als „informelle Arbeit“ gilt seit langem das, was nicht unter „normale“ Erwerbsarbeit fällt – wie das Putzen von Autoscheiben.
© IMAGO

Moderne Beschäftigungs- und Arbeitsformen: Was alles Arbeit ist

Arbeiten ist die moderne Form des Daseins. Immer wieder wandelt sich, was man darunter versteht.

„Angst vor Langeweile ist die einzige Entschuldigung für Arbeit.“ Der Komiker Groucho Marx verwies mit diesem Spruch darauf, dass Arbeit Selbstverwirklichung und ein Mittel gegen Langeweile sein kann. Arbeit war und ist für viele Menschen aber vor allem Abhängigkeit und Last, mehr Fluch als Segen. Das Konzept von Arbeit ist äußerst vielgestaltig. Arbeit ist weit mehr als eine wirtschaftliche und körperliche Tätigkeit, um den Lebensunterhalt zu sichern.

Leitend für die Definition von Arbeit war hierzulande freilich lange Zeit die recht gradlinige Gleichsetzung von Arbeit mit geregelter Erwerbsarbeit, die sich im Zusammenhang mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert etablierte. Juristisch kodifiziert, begründete die Arbeit fortan die Bindung des Individuums an breitere soziale Gruppen und vor allem an den Nationalstaat. Die Herausbildung der „modernen“ Arbeit als Erwerbsarbeit geschah vor dem Hintergrund einer zunehmend globalisierten Weltordnung, die durch den Imperialismus sowie eine Intensivierung von Migration und Handelsströmen gekennzeichnet war.

Jene Beschäftigungs- und Arbeitsformen, die sich nicht in die Schublade der Erwerbsarbeit einfügen lassen, die irgendwie „unnormal“ erscheinen, werden seit geraumer Zeit unter der Kategorie „informelle Arbeit“ zusammengefasst. Dabei handelt es sich freilich um eine höchst problematische Begrifflichkeit, denn sie umfasst häufig nicht mehr als eine recht willkürliche Auflistung jener Aktivitäten, die man auf den Straßen einer Stadt in der sogenannten Dritten Welt beobachten kann – Zeitungsverkäufer etwa, Schuhputzer, Bettler oder Prostituierte. Informelle Arbeit steht für das „Andere“, das „Unnormale“, sie wird vor allem durch das definiert, was sie vermeintlich nicht ist – ungeregelt, ungeschützt, unorganisiert.

Zunehmend wird sie aber auch in den Vereinigten Staaten und in Europa ausgemacht und bezeichnet eine breite Palette von Erwerbskonstellationen. Sie reicht vom Handwerker, der nach Feierabend „Schwarzarbeit“ verrichtet, bis zum türkischen Kioskbesitzer.

Diese Entwicklung bedeutet nicht, dass die Welt der Arbeit in den vergangenen Dekaden weltweit einfach nur „bunter“ geworden ist. Denn Prozesse der Informalisierung von Arbeitsregulierung prägen gegenwärtig die Arbeits- und Lebensbedingungen einer wachsenden Zahl von Menschen in verschiedensten Regionen der Welt – und beileibe nicht nur im „globalen Süden“. „Normal“ sind für immer mehr Menschen weltweit prekäre Arbeitsverhältnisse. Und für viele ist das nichts Neues.

Arbeiten als moderne Form des Daseins – Hannah Arendt hat dazu vor nahezu fünf Jahrzehnten einflussreiche Überlegungen angestellt. Ihr zufolge dreht sich in den industriellen Gesellschaften alles um Arbeit und Produktion. Arbeit und Beruf haben die größte Bedeutung für die Menschen, ihr Einkommen und ihre Lebenschancen. Zudem, so Arendt, haben moderne Menschen nur gelernt zu arbeiten. Etwas anderes können sie nicht (mehr), und nimmt man ihnen ihre Arbeit weg, verfallen sie nicht nur in eine materielle Existenzkrise, sondern auch in eine existenzielle Sinnkrise. Nicht-Arbeit bedeutet Ausgrenzung und Ausschluss. Teilhabechancen an der Gesellschaft verringern sich.

Kern der so konstruierten modernen Arbeitsgesellschaft ist die Lohn- und Erwerbsarbeit. Als diese auch in Industriegesellschaften immer prekärer zu werden schien, verkündeten einige das „Ende der Arbeit“. Doch scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Erwerbsarbeit verschwindet nicht, wird aber poröser und fluider.

Und vieles gilt nun als „Arbeit“, was es vorher nicht war: Wer kocht, verrichtet Hausarbeit; wer das Liebesleben mit seinem Partner erörtert, leistet Beziehungsarbeit; wer sich um seine Kinder kümmert, erbringt Betreuungsarbeit; und das Fitnessstudio ist voller Körperarbeiter. Die Erweiterung der Definition von Arbeit jenseits der Erwerbsarbeit ist unabdingbar. Denn Arbeit umfasst eine riesige und durch die Engführung von Erwerbsarbeit lange ignorierte Bandbreite von Tätigkeiten und Konzepten, die mit ganz unterschiedlichen Erfahrungshorizonten in Zeit und Raum verknüpft sind.

Aber ist nun alles Arbeit? Oder wie können wir erfassen, wo Arbeit beginnt und wo sie endet? Wie genau lassen sich Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit ziehen?

Diese Grenzen unterlagen im Verlauf der Geschichte variablen Deutungen. In westlichen Gesellschaften etwa konnte man seit den 1970er Jahren eine neue Hinwendung zu Freizeitaktivitäten und Konsum feststellen. Diese verliehen dem Leben Sinn und Zweck, Fleiß und Arbeit hingegen verloren als Orientierungspunkte an Bedeutung. Bundeskanzler Helmut Kohl beklagte seinerzeit sogar den „Freizeitpark Deutschland“. Gegenwärtig verschränken sich Arbeit und Nicht-Arbeit zum Beispiel in neuen Arbeitsformen wie der Projektarbeit in kleinen Teams. Dort finden sich flexible Arbeitszeitstrukturen, in den oft sehr langen Arbeitstag werden Spiel- und Freizeitelemente eingebaut.

Die Vorstellung eines Lebens ohne Arbeit, gar das „Recht auf Faulheit“, wie es Paul Lafargue Ende des 19. Jahrhunderts forderte, hat sich nirgendwo durchsetzen können. Allerdings würden auch wenige so weit gehen wie Immanuel Kant. Der Philosoph wertete die Muße einst als „leere Zeit“ ab und die Arbeit zum Lebenssinn auf: „Je mehr wir beschäftigt sind, je mehr fühlen wir, dass wir leben, und desto mehr sind wir uns unseres Lebens bewusst. In der Muße fühlen wir nicht allein, dass uns das Leben so vorbeistreicht, sondern wir fühlen auch sogar eine Leblosigkeit.“

- Der Autor ist Professor für die Geschichte Afrikas an der HU und Direktor des Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kollegs „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“. Dieser Text erschien in der Beilage "Humboldt-Universität 2015".

Andreas Eckert

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