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Trauernde Schüler stehen vor einer Schule in den USA.

© Reuters

Ursachen für Schulmassaker erforscht: Wege in den Amok

Berliner Forscher stellen gängige Erklärungen für Schulmassaker infrage. Die in den USA verbreitete Annahme, häufig sei Mobbing die Ursache, lasse sich mit Studien nicht belegen. Dafür spielten etwa Konflikte mit Lehrern eine größere Rolle.

War er einsam? Ein Mobbingopfer? Wenn ein Schüler zur Waffe greift und auf seine Lehrer und Mitschülerinnen schießt, ist das immer unfassbar. Doch kaum sind die Schüsse verklungen, steht das Urteil meist schon fest: Der Amokläufer von Emsdetten war ein Außenseiter. Die Täter von Columbine wurden gehänselt und isoliert. In Medienberichten, aber auch in der Forschung ähneln sich die Erklärungsmuster. Selten haben die Täter wie der 18-Jährige, der am 20. November 2006 in Emsdetten fünf Menschen verletzte und sich selbst tötete, ein Tagebuch geführt, das die Motive im Nachhinein einordnet. Keine Rede war da von Mobbing. Er habe frei sein wollen, schrieb er.

Deutsche Gewaltforscher versuchen derzeit, ein breiteres Spektrum an Risikofaktoren potenzieller Schulattentäter zu benennen, um früher gewarnt zu sein und zukünftige Attentate womöglich zu verhindern. In dem interdisziplinären, bundesweiten Forschungsprojekt „Target“, das das Bundesforschungsministerium seit 2013 fördert, werden Täterprofile von Schulamokläufern erstellt.

Weltweit 35 Studien zu 126 Taten ausgewertet

An der Freien Universität Berlin, wo ein Teilprojekt beheimatet ist, hat das Team um den Psychologen Herbert Scheithauer dazu am Mittwoch zwei Studien vorgestellt. Sie zeigen, wie unterschiedlich der Mix aus sozialen Konflikten bei den Tätern sein kann. Das Team fand keinen spezifischen Risikofaktor, der bei allen Schießereien an Schulen zu finden war.

Die Berliner Forscher hatten sich gefragt, warum Mobbing so oft als Auslöser für die Gewalt genannt wurde und ob sich dieser Faktor tatsächlich nachweisen ließe. Für die erste Studie werteten sie die weltweit zur Verfügung stehende Literatur aus, die sich vergleichend mit solchen Fällen beschäftigt – insgesamt 35 Studien mit 126 Taten, die zwischen 1999 und 2013 an Schulen und Universitäten verübt wurden. Die Wissenschaftler sprechen daher auch von „School Shootings“ oder „schwerer, zielgerichteter Gewalt an Schulen“. Das Wort „Amoklauf“ vermeiden sie. Es bezeichnet ein plötzliches Ausrasten, die untersuchten Angriffe waren jedoch lange geplant.

Die Forschung zu School Schootings ist noch jung

Den Forschern fiel auf, dass sich die Literatur zu den Schießereien häufig auf dieselben Fälle bezieht und insgesamt „schludrig“ mit Definitionen und Quellen umgeht. Die Forschung zu School Shootings ist noch jung, erst mit dem Attentat 1999 an der Columbine-Highschool rückte Gewalt an Schulen verstärkt ins wissenschaftliche Blickfeld. Noch gibt es keine einheitliche Methodik. Oft werden lediglich Medienberichte zitiert, und aus medizinischer Sicht interessieren eher psychische Störungen wie Schizophrenie oder Waffenfixierung als soziale Umstände. Die Täter kann man meist nicht befragen, weil sie sich selbst erschossen haben oder in Haft sitzen. Auch internationale Vergleiche von Schulmassakern gibt es kaum. Zudem stammt der Großteil der Literatur aus den USA, wo ganz bestimmte soziale Hierarchien an Highschools herrschen – und Mobbing als Mittel der Auseinandersetzung besonders verbreitet ist und als Quelle von Gewalt gilt.

In den weltweiten Studien lässt sich Mobbing unter Gleichaltrigen als Risikofaktor aber nicht so deutlich nachweisen. Nur ein Drittel der Täter war im Vorfeld der Tat körperlich angegriffen worden. Etwa die Hälfte fühlte sich von Partnern oder Altersgenossen zurückgewiesen, wesentlich weniger als bislang angenommen. Auch wenn Mobbing nicht zu unterschätzen ist, halten die Berliner Forscher diese Form der sozialen Ausgrenzung nicht für einen Schlüsselfaktor. „Viele Schüler sind von Mobbing betroffen und werden nicht zu Tätern“, sagt Scheithauer. Tatsächlich hatten viele Täter Freunde. In mehreren Fällen hatten sie sogar selbst andere gedemütigt.

Kein spezifischer Risikofaktor, der zu einem Schulmassaker führt

Es gibt in den Augen der Wissenschaftler also keinen spezifischen Risikofaktor, der zu einem Schulmassaker führt. „Die Entwicklungswege, die zu einer Tat führen, sind immer unterschiedlich“, sagt Scheithauers Kollegin Rebecca Bondü, die mittlerweile in Potsdam forscht und eine Dissertation zu School Shootings geschrieben hat. Zwar spielte „soziale Marginalisierung“ in 85 Prozent und ein „negatives Schulumfeld“ in 88 Prozent der Fälle eine Rolle. Es müssen aber noch andere Risikofaktoren hinzukommen wie Waffenzugang und Gewaltfantasien.

In allen deutschen Fällen gehörten Lehrer zu den ersten Opfern

Ein völlig überraschendes Ergebnis hat allerdings eine zweite Studie geliefert, für die vor allem Rebecca Bondü verantwortlich zeichnet. Sie analysierte darin sieben deutsche Schulmassaker und entdeckte, dass in allen Fällen Lehrer zu den ersten Opfern gehörten. Anhand der Strafakten stellte Bondü fest, dass bei den deutschen Fällen knapp die Hälfte der Täter Konflikte mit ihren Lehrern hatten. Sie fühlten sich ungerecht behandelt, wenn sie der Schule verwiesen worden waren oder schlechte Noten bekamen.

Die Wissenschaftler ordnen Lehrern daher eine „Schlüsselrolle“ zu – ein Faktor, der in den amerikanischen Studien keine Rolle spielte. Scheithauer weist aber auch darauf hin, dass ein problematisches Verhältnis zu Lehrern nur ein Faktor unter vielen ist. Er warnt davor, aus der Studie zu schließen, Lehrer trügen die Schuld.

Ethische Pflicht der Forscher, Opfer und Familien zu schützen

Mit ihrer Forschung wollen Scheithauer und sein Team auch die Präventionsarbeit voranbringen. Target schließt an Berliner Projekte an, die Lehrern beibrachten, psychosoziale Notlagen bei Schülern rechtzeitig zu erkennen. Gerade für die Präventionsarbeit sei es wichtig zu wissen, dass Lehrer-Schüler-Konflikte Potenzial für Gewalttaten liefern können, sagt Scheithauer. Dafür müssten auch Schulverwaltungen sensibilisiert werden.

Doch die Täterforschung hat ihre Grenzen. Die Fallzahlen sind gering, die Forscher können die sozialen Umstände nur rekonstruieren und müssen sich dafür auf teils widersprüchliche Protokolle verlassen. Zudem dürfen sie aus Gründen des Datenschutzes keine Namen und konkreten Fälle nennen und nur das berichten, was öffentlich bekannt ist. Die Studien verweisen daher oft nur kryptisch auf Prozentzahlen – und riskieren damit erneut die Generalisierung. Rebecca Bondü sagt, auch sie würde manchmal gern zeigen, was im konkreten Fall ausschlaggebend war. „Aber wir sehen eine ethische Pflicht der Forschung, die Opfer und Familien zu schützen.“

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