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Wie sich der Begriff "Mutismus" wandelte: Nicht Weigerung, sondern Unvermögen

Warum bleiben manche Menschen in bestimmten Situationen stumm? Bereits an den Bezeichnungen der Störung kann man die Erklärungsversuche im Laufe der Zeit ablesen.

Der Arzt Adolf Kussmaul (1822-1902) war ein unerschrockener Gelehrter, der sich von der Magensonde bis zur kindlichen Entwicklung zahlreichen Themen widmete. Das rätselhafte Schweigen von Menschen , die eigentlich über die intellektuellen und körperlichen Voraussetzungen zu verbaler Kommunikation verfügen, beschreibt er erstmals 1877 in seinem Buch „Die Störungen der Sprache“. Für Kussmaul ist es eine „Aphasia voluntaria“, ein willentliches Schweigen. Er bringt es sogar in Verbindung zu klösterlichen Schweigegelübden. Der Begriff legt nahe, dass die Betreffenden auch anders könnten – wenn sie nur wollten.

Sigmund Freud dagegen deutete das zeitweilige Verstummen seiner Patientin Dora als „hysterischen Mutismus“. Nur wenn ein heimlich geliebter Mann abwesend war, zeige es sich, schreibt Freud 1905 in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“.

Mehr als 50 Jahre später taucht ein neuer Begriff auf, den der Schweizer Kinderpsychiater Moritz Tramer bereits im Jahr 1934 prägte: „Elektiver Mutismus“. Diese Bezeichnung, die auch im ICD-10 der WHO verwendet wird, spielt darauf an, dass die Kinder in „ausgewählten“ Situationen schweigen. Man kann sie allerdings auch so verstehen, als wählten die Kinder das Stummbleiben selber. In der Formulierung „refusal to talk“, Weigerung zu sprechen, die sich in älteren Diagnose-Manualen findet, wird das noch deutlicher.

Fachleute sprechen heute lieber von „selektivem“ – auf bestimmte Situationen beschränktem – Mutismus. Und von einem „failure to talk“, dem Unvermögen zu sprechen.

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