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Neue Freiheiten. Männer sind heute nicht mehr auf eine enge Rolle festgelegt.

© dpa(Harald Tittel

Sozialisation von Jungen: Zwischen Scham und Stolz

Aufgefächerte Männerbilder: Beim „Männerkongress“ diskutierten Psychologen darüber, wie die Sozialisation von Jungen gelingt.

Triangulierung – das hat, sagt der Fremdwörter-Duden, mit der Verwendung von Dreiecken beim Vermessen zu tun, bedeute aber auch die „Fähigkeit des Vaters, sich liebend mit der Mutter zu identifizieren, sodass das Kind in die Lage gebracht wird, sich von einer allzu engen Bindung an die Mutter zu lösen“. Aber was meint „allzu eng“ in Zeiten, in denen die sichere Bindung als das beste seelische Polster für alle Lebenslagen gilt? Heißt Vater und Mutter auch Bio-Mann und -Frau? Und in wessen Lebenslauf tauchen schon nur sich liebend identifizierende Wunsch- und Lichtgestalten auf?

Wie Judith Butler sagt: Es sind „vorvertragliche Räume“, in denen die soziale Konstruktion beginnt, denn wir kommen nicht als die freien Subjekte auf die Welt, die einen „Vertrag mit denen abschließen können, die uns die Brust geben“. Doch ob Sexualität, „Beziehungen“ aller Art oder Stress im Beruf – wie man(n) damit umgeht, hat viel mit inneren Bindungsmustern, den inneren Bildern der ersten wichtigen Menschen im Leben zu tun.

Wie stabil, von Vertrauen geprägt und ‚passend’ solche Bindungsrepräsentanzen sind – oder eben instabil, unpassend oder gar von Abneigung und Widerwillen geprägt – kann die Entwicklung und die (sexuelle) Identität bis ins Erwachsenenalter beeinflussen. Auch darum ging es jetzt unter dem Oberthema „Männliche Sexualität und Bindung“ deshalb beim „Männerkongress“ in Düsseldorf, den das Institut für Psychosomatische Medizin der Uniklinik Düsseldorf und die Düsseldorfer Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie im Zwei-Jahres-Rhythmus veranstalten.

Es ist schwer, in die Qualität von Bindungen hineinzuschauen

Wie schwer es ist, in Familien und in die Qualität von ‚Bindungen’ hineinzuschauen, das Erleben von Sexualität und Bindung gar mit großem zeitlichen Abstand zu erfassen – darauf macht der Stuttgarter Historiker Martin Dinges, Experte für die Geschichte von Männlichkeit(en), aufmerksam.

Doch dass heute viel mehr Zuwendung zum Kind verlangt wird, Eltern sie sich wünschen – und manchmal wohl auch abfordern – , und Erziehungsstile sich geändert haben, lässt sich durchaus zeigen. Nur noch Grausen erregt etwa Johanna Haarers NS-Zeit-typische – und noch viel zu lange nachhallende – Empfehlung: „Versagt auch der Schnuller, dann, liebe Mutter, bleibe hart. Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen.“ Auch die Männerbilder haben sich aufgefächert, vom Ernährer bis zum Kümmerer ist manches möglich.

‚Neue’ Väter, Partner, Söhne also – mit besserem Zugang zu nicht nur den eigenen Gefühlen und bereit zu Sorgearbeit vieler Art? Es gibt sie, und das ist nicht zuletzt die Gunst der Stunde. „Frühkindliche Abhängigkeitsängste konnten auch dadurch nachlassen, dass in den letzten 70 Jahren große historische Katastrophen mit all ihren Wirkungen in die Familien und in den Einzelnen hinein ausgeblieben sind“, betont Matthias Franz, Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Düsseldorf und einer der Initiatoren des Kongresses.

Viele Jungen wachsen ohne emotional präsenten Vater auf

Die vor allem in den letzten Jahren gewonnenen Kenntnisse über die seelischen Langzeitfolgen von Krieg, Flucht und Vertreibung zeigen aber auch, wie viel mehr als nur materielle Unterstützung viele männliche junge Flüchtlinge heute bräuchten. Auch bei uns wachsen viele Jungen heute ohne emotional präsenten Vater auf. Oder sollten wir sagen: Ohne den oder die, der oder die Dampf aus dem Zweier-Kessel nehmen kann, der oder die beide (also den Partner/die Partnerin und das Kind) liebt und den oder die beide lieben können – oder doch achten, anerkennen – irgendwie …

Seine Rolle jedenfalls fehlt in den Familien, zu oft auch noch in Kindergärten, Kitas und Grundschulen, und die daraus entstehenden Verunsicherungsgefühle und Ängste können bei Jungen „feminisierende Anpassung (hochloyales Muttersöhnchen)“ oder „angestrengte, überkompensierte Scheinmännlichkeit (narzisstisch verunsicherter Macho)“ zur Folge haben, warnt Matthias Franz. Und ähnlich warnen andere. Ist das ein Diener vorm Klischee? Eher nicht. Viel eher zeigt sich hier die Sorge der Psychotherapeuten, dass Jugendliche und junge Männer, die ihre Praxen aufsuchen und zwischen Grandiositäts- und Minderwertigkeitsgefühlen schwanken, ihren Weg nicht finden, an ihrer Beziehungsfähigkeit und an ihrer sexuellen Identität zweifeln oder gar verzweifeln.

Identitäten, Sexualitäten - alles im Plural

Dabei ist heute so vieles erlaubt, es gibt Identitäten, Sexualitäten – alles im Plural. Alles gern ein bisschen cross, queer oder bi, wer mag, darf sich jedenfalls so inszenieren, und dem frisch geduschten Mann im lilafarbenen Hemd schreiben wir längst nicht mehr seine sexuelle Orientierung oder ein Herkunftsland im Süden zu. Gewachsene Toleranz für sexuelle Uneindeutigkeit nennt es die Frankfurter Psychotherapeutin und Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker. Diese größere Freiheit, die Möglichkeit zum Spiel mit dem, was Psychologen die „bisexuelle Omnipotenz“ der ersten Lebenszeit nennen, sei allerdings immer auch eine Quelle von Unsicherheit.

Nicht jeder wälzt gern spitzfindige Fragen, wie Judith Butler sie aufwirft: Ist, wenn ein Mann mit frühkindlicher Mutteridentifizierung einen anderen Mann begehrt oder eine Frau, sein Begehren dann homosexuell, heterosexuell oder gar lesbisch? Und dass manche Männlichkeitsvorstellungen immer noch ganz schön festgezurrt sind, zeigt uns die banale Kleiderordnung. Nicht zuletzt in Sachen Gesundheitskompetenz, bei der Vor- und Nachsorge allgemein, aber auch was zum Beispiel die Inanspruchnahme psychologischer Betreuung nach einer Prostatakrebsdiagnose betrifft, gibt es für Männer noch einiges nachzuholen.

Ein "Kuddelmuddel unterschiedlicher Männlichkeiten"

Und beim Stolz? Ist das „Kuddelmuddel unterschiedlicher Männlichkeiten“ ein Grund, sich die Selbstwert-Waagen kleiner und großer Jungs genauer anzusehen, bei der Scham eher etwas wegzunehmen und beim Stolz etwas draufzulegen? Vielleicht. Männlicher Stolz – vom weiblichen sei hier jetzt einfach mal kurz nicht die Rede –, mit seinem Spektrum von der kleinen Angeberei auf dem Spielplatz bis zur großen Hilfsbereitschaft in Partnerschaften, könne in seiner Funktion als Scharnier zwischen Bindungswünschen und Autonomiebedürfnissen vielem dienen, meint Hermann Staats, Professor für psychoanalytisch orientierte Entwicklungspsychologie in Potsdam. Als Beziehungsangebot, zur Angstbewältigung, Selbstbehauptung und manchem mehr.

Doch die Möglichkeit, Stolz auch zu ‚lernen’, brauche „Spielfeinfühligkeit“. Hier seien Väter oder andere „Rangelpersonen“ gefragt. Denn wenn es stimmt, dass Jungen in ihrer biologischen Entwicklung, gerade was die Regulation des eigenen Verhaltens betrifft, oft langsamer sind als viele Mädchen, die Selbstregulation von ihnen gleichzeitig aber oft verlangt wird – „Stell dich nicht so an!“ –, müssen sie, so Staats, oft auf motorische Aktivitäten – Raufen, Stöckesuchen, ein bisschen den Großen Max markieren – ausweichen. Da immer gleich zum „Gewaltverzicht“ aufzurufen, sei nicht sinnvoll, denn „Mann lernt dabei, wann man aufhören muss“.

Wichtige Fähigkeit: sich zurücknehmen

Und zwar fürs Leben, denn die Fähigkeit – und Bereitschaft! –, sich zurückzunehmen sei auch ein wichtiges Element dauerhafter Liebesbeziehungen, meint der Paartherapeut Hans Jellouschek. Er warnt vor den alltäglichen Liebestötern in Gestalt vieler kleiner Unachtsamkeiten: Auch langjähriges Zusammenleben brauche immer wieder die kleinen selbstregulativen Sidesteps in Gestalt von „Ich nehme die Impulse wahr, die jetzt in mir sind, und entscheide dann, wie ich mich verhalten will“.

Wenn ich mich so verhalten kann. Es könnte ja immer auch besser bestellt sein um die eigenen Bindungsrepräsentanzen, und der ‚sich liebend identifizierende’ Mensch für eine De-luxe-Triangulierung oder anderes steht auch nicht immer zur Verfügung. Irgendwie muss es trotzdem gehen. „Viele Väter können auch mütterlich – und viele Mütter auch väterlich, wenn sie denn müssen“, sagt Hermann Staats. „… wenn sie denn dürfen“ klingt auch nicht schlecht.

Also weiterwurschteln, die Frauen auch – nicht nur bis zum nächsten Männerkongress.

Ulla Gosmann

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