
© Laurin Schmid für den Tagesspiegel
Klingbeil im Tagesspiegel-Gespräch: „Es gab Momente, wo ich sehr am Limit war“
Tagesspiegel-Chefredakteur Christian Tretbar hat am Montagabend Lars Klingbeil zum „Hauptstadtgespräch“ gebeten. Der Vizekanzler gab überraschend persönliche Einblicke. Die zentralen Sätze und Gedanken.
Stand:
Wie blickt SPD-Chef und Vizekanzler Lars Klingbeil auf die großen Fragen der Zeit? Das war am Montagabend beim Tagesspiegel-„Hauptstadtgespräch“ zu erfahren.
Einer der eindrücklichsten Sätze fällt gleich zu Beginn: „Es gab schon auch Momente in den letzten Monaten, wo ich sehr am Limit war“, sagt Klingbeil. Vom Ampel-Bruch über das katastrophale Wahlergebnis der SPD bis zum Votum der Delegierten, die Klingbeil auf dem Parteitag bei der Wiederwahl zum Vorsitzenden abstraften: „Das war schon ein brutales Jahr“, fasst Klingbeil zusammen.
Das habe auch zu tun mit dem Tempo des politischen Geschäfts. „Als ich angefangen habe mit der Politik, haben wir uns auch mal drei Monate lang über die Praxisgebühr gestritten.“ Jetzt würden sich an Tag eins Wladimir Putin und Donald Trump wegen der Ukraine treffen, an Tag zwei gehe es um Frau Brosius-Gersdorf und die Verfassungsrichterwahl und an Tag drei entscheide der Bundeskanzler über Waffenlieferungen an Israel.
Voller Reformeifer
Das Schlagwort vom Herbst der Reformen findet Klingbeil sogar noch „sehr unambitioniert“. Denn, so formuliert er es: „Wir müssen ein ganzes Jahr der Reformen haben.“ In den vergangenen zwanzig Jahren habe es nicht genügend Reformen gegeben. „Da haben wir uns selbstzufrieden zurückgelehnt.“
Die SPD war immer stark, wenn sie für Veränderung und Aufbruch gekämpft hat. Das will ich auch.
SPD-Chef und Vizekanzler Lars Klingbeil
Der Vizekanzler spricht darüber, was er sich unter Leistungsgerechtigkeit vorstellt: „Heute kannst du der Beste in der Schule gewesen sein, der Beste im Studium, der Fleißigste bei der Arbeit, du wirst dir in Berlin keine Eigentumswohnung leisten können.“ Und auch das Gegenbeispiel macht er auf: „Du kannst der Schlechteste sein, hast aber geerbt und kannst dir eine Eigentumswohnung leisten. Was macht das eigentlich mit den Fleißigen?“ Sein Fazit: „Das Leistungsprinzip muss in dieser Gesellschaft schon gelten.“
Die Debatte um den Sozialstaat werde aufgehetzt geführt, das mache ihm Sorgen. Aber ja, es gebe Korrekturbedarf. „Ich glaube, dass die SPD da ist, wo sie ist in Wahlergebnissen und Umfragen, weil sie dieses Thema zu lange zu vorsichtig behandelt hat.“ Klingbeil sagt deutlich: „Meine Perspektive ist nicht die von Bürgergeld-Empfängern. Meine Perspektive ist die von Menschen, die 2000, 3000 Euro verdienen und jeden Tag aufstehen.“
Die SPD sei nie stark gewesen, wenn sie eine Status-quo-Partei gewesen sei. „Die SPD war immer stark, wenn sie für Veränderung und Aufbruch gekämpft hat. Das will ich auch.“ Er habe der Union klar gesagt, dass auch seine eigene Partei beim Bürgergeld Korrekturen wolle. Sowohl bei denen, die wenig Geld haben, als auch bei denen, die viel Geld haben, gebe es Menschen, die den Staat missbrauchen. Dagegen müsse die SPD vorgehen.
Tagesspiegel-Chefredakteur Christian Tretbar spricht Klingbeil auf Sören Link an, den gerade wiedergewählten Oberbürgermeister von Duisburg. Der ist in der SPD für viele eine Reizfigur, denn er spricht mit klaren Worten über Sozialbetrug und fordert ein hartes Durchgreifen gegen Betrüger. „Muss die SPD ein bisschen mehr Sören Link wagen?“, fragt Tretbar. Klingbeil antwortet: „Ja.“
Drastische Warnung
Befragt zur Debatte ums Verbrenner-Aus im Jahr 2035 berichtet Klingbeil von einem Gespräch mit dem Betriebsratsvorsitzenden bei Ford. Der habe davor gewarnt, den Kurs noch einmal zu ändern und das Verbrenner-Aus zu kippen. „Wenn ihr das macht, bricht bei uns endgültig alles zusammen“, zitiert Klingbeil den Ford-Mann. Er sagt aber auch, er sei bereit, über mehr Flexibilität für die Zeit bis 2035 zu sprechen. „Da bin ich völlig pragmatisch.“ Und dann weist der Vizekanzler noch darauf hin: „China ballert Milliarden in die Elektromobilität.“
Klingbeil wird persönlich
Manches über den Vizekanzler wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Zum Beispiel, dass er verheiratet und Vater eines noch ganz jungen Kindes ist. Der Sohn kam im Sommer 2024 zur Welt. Zur Frage, wie Vaterschaft und Spitzenpolitik vereinbar sind, sagte Klingbeil: „Ich verzichte auf sehr vieles.“ Die private Situation fordere ihn manchmal sehr. „Das will ich auch, dafür verzichte ich auf den einen oder anderen Termin. Es ist auch okay, dass man nicht auf jedem Sommerfest ist und nicht auf jedem Sommerfest der Letzte ist, der noch ein Bier trinkt.“
Klingbeil erzählt außerdem, dass er vor zehn Jahren eine Krebserkrankung überstanden hat. Es war Zungenkrebs. Diese Erfahrung helfe ihm heute, ruhiger durch die Dinge durchzukommen. „Alles, was ich heute erleben darf, ist ein Privileg und auch eine Verlängerung.“
Ja, ich bin sensibel. Ich finde auch überhaupt nicht schlimm, wenn Männer sensibel sind.
SPD-Chef und Vizekanzler Lars Klingbeil
Vor Kurzem wurde bekannt, dass Kanzler Friedrich Merz die eigenen Leute warnte, Klingbeil sei „sehr sensibel“. Dazu befragt, bekennt der Vizekanzler: „Ja, ich bin sensibel. Ich finde auch überhaupt nicht schlimm, wenn Männer sensibel sind.“ In Kiew habe er mit Vitali Klitschko an einem zerbombten Wohnhaus gestanden. Eine junge Familie sei dort morgens um 5 Uhr von einer russischen Rakete umgebracht worden, sie war gerade erst aus dem Kriegsgebiet in die Hauptstadt geflohen. „Mir schossen die Tränen in die Augen“, bekennt Klingbeil. Das finde er auch nicht schlimm.
Und wie sieht es beim Bundeskanzler aus, ist der hart im Nehmen? Da schmunzelt Klingbeil erst einmal und sagt dann: „Wir können Dinge gut miteinander besprechen.“
Noch eine Warnung
„Wir wissen, dass Putin ab 2029 in der Lage wäre, Nato-Territorium anzugreifen“, sagt Klingbeil. „Das heißt nicht, dass ich sage, er tut es. Aber das heißt, er könnte es.“ Und Klingbeil sagt weiter: „Wir waren zu naiv. Ich glaube, dass Putin am Ende die Sprache der Stärke wahrscheinlich als einzige Sprache versteht.“ Klingbeil macht auch klar, was er für die richtige Reaktion hält: „Es kommt insgesamt auf eine Körperhaltung gegenüber Russland an, die deutlich macht: Bis hierhin und nicht weiter.“
Und er schildert seine Gefühlslage rund um das Treffen von Wladimir Putin und Donald Trump in Alaska: „Da muss man nicht drumherum reden, da sind wir alle supernervös. Wir haben alle gedacht: Hoffentlich machen die jetzt nicht das, wozu sie in der Lage wären.“ Es sei sehr wichtig, dass Trump angesichts der jüngsten Verletzungen des Nato-Luftraums nun klare Signale an Putin gesendet habe.
Er liebe die USA als Land, derzeit gebe es vieles, wo er sage: „Das kann nicht euer Ernst sein.“
Mit welchem Song lässt sich der Zustand der Koalition beschreiben? „Weiß ich nicht, da fällt mir nichts ein“, sagt Klingbeil.
Was er vom US-amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance halte? „Ich kenne ihn nicht“, sagt Klingbeil zunächst, bevor er dann doch ein paar Sätze über Vance sagt. Sie laufen darauf hinaus, dass der für Klingbeil bisher rätselhaft bleibt.
Später, in der Runde der Publikumsfragen, erkundigt sich eine Zuhörerin, welchen Titel sein Buch hätte, wenn Klingbeil eins schreiben würde. So spontan hat er auch da keine Idee parat.
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