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Abtreibung: Im Zweifel gegen das Leben

92 Prozent aller Schwangeren, die ein behindertes Kind erwarten, treiben ab. Zu viele, meinen Experten und fordern bessere Beratung.

Am Ende stand sie da mit einem Stück Papier in der Hand. Darauf hatten Ärzte „normabweichende Begriffe“ geschrieben, die für die Schwangere eine Welt zusammenbrechen ließen. „Mein erster Gedanke war: Ich will dieses Monster in mir weg haben“, sagt Christine Schirmer. Die Ärzte hatten bei ihrem Kind ein Down-Syndrom festgestellt. Heute ist der Junge ein Jahr und vier Monate alt. „Es geht ihm gut“, sagt Schirmer, „er ist ein kleiner, süßer Knopf.“

Christine Schirmer ließ sich nicht vom ersten Schock überwältigen, sondern suchte nach Rat. Sie sprach mit Hebammen, bei Pro Familia erklärte man ihr die „normabweichenden“ Begriffe und versuchte zu ergründen, welche Folgen die Fehlbildungen für das Leben des Kindes und der Familie haben würden. Schirmer ist eine Ausnahme. 92 Prozent der Mütter, bei deren Embryo ein Down-Syndrom diagnostiziert wird, entscheiden sich für einen Abbruch.

„Ich habe den Eindruck, dass das in unserer Gesellschaft zu schnell geht: Diagnose – dann kommt schon der Abbruch“, sagt Joachim Dudenhausen, der Direktor der drei Geburtskliniken der Charité. Auch beobachtet er, dass wegen immer geringfügigerer Fehlbildungen noch zu einem sehr späten Zeitpunkt der Schwangerschaft abgetrieben wird, etwa bei einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte. Jeanne Nicklas-Faust von der Berliner Vereinigung „Lebenshilfe“ sieht einen regelrechten „Automatismus zur Abtreibung“. Viele Ärzte würden schnell zu einer Abtreibung raten, auch weil sie Angst vor Schadensersatzforderungen hätten. Eine noch unveröffentlichte Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung hat ergeben, dass ein Drittel der Abbrüche bereits zwei Tage nach der Diagnose einer Fehlbildung stattfinden.

Behinderungen wie das Down-Syndrom lassen sich erst ab dem vierten, fünften Schwangerschaftsmonat feststellen. Genaue Zahlen, wie viele sogenannter Spätabbrüche vorgenommen werden, gibt es allerdings nicht. Nur wenige Kliniken melden die Fälle. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe schätzt, dass es sich jährlich und bundesweit um mehrere tausend handelt. Im Vergleich zu den 120 000 Schwangerschaften, die vergangenes Jahr in Deutschland abgebrochen wurden, auch zu den 10 000 in Berlin, ist das eine kleine Zahl. Klinikchef Dudenhausen findet sie dennoch „skandalös“, wie auch die seit Jahren konstant hohe Zahl der Abtreibungen insgesamt. Er kritisiert, „dass Frauen häufig ohne vorherige Beratung eine Entscheidung treffen“. Gesetzlich ist eine Beratung nur bei Abbrüchen bis zur 12. Schwangerschaftswoche Pflicht.

Die Frage, von wem und wie Frauen betreut werden sollen, bei denen eine Fehlbildung des Embryos festgestellt wird, drängt. Denn die Methoden, um vorgeburtliche Fehlentwicklungen aufzuspüren, werden immer feiner. Dazu kommt, dass Untersuchungen, die vor 20 Jahren nur im Verdachtsfall vorgenommen wurden, zur Regel geworden sind. „Man kann heute viel diagnostizieren, aber die Frage ist: Was machen wir mit dem Wissen“, sagt Charité-Chefarzt Dudenhausen. Auch beobachtet er, dass bereits kleine Behinderungen gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert sind. „Je mehr Fehlbildungen vor der Geburt festgestellt werden können, umso mehr setzt sich die Haltung durch: Ein behindertes Kind lässt sich vermeiden“, sagt Nicklas-Faust.

Dudenhausen, Organisationen wie Lebenshilfe, Pro Familia und kirchliche Einrichtungen fordern deshalb, dass es mehr Beratungsangebote für die betroffenen Frauen geben muss. Dudenhausen fordert gar, dass der Paragraf 218 um eine Beratungspflicht bei Spätabbrüchen ergänzt wird. Einen entsprechenden Vorschlag an den Bundestag hat auch die Bundesärztekammer und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe im Dezember 2006 eingereicht.

„Den Eltern muss die Möglichkeit gegeben werden, sich eine unabhängige Meinung zu bilden. Die Meinung des diagnostizierenden Arztes darf nicht dominieren. Außerdem brauchen sie Zeit. Zu viele treffen ihre Entscheidung unter Schock“, sagt Dudenhausen. Viele Eltern fühlen sich allein gelassen mit der Diagnose, mit der Frage, was diese konkret für das Leben ihres Kindes und für sie selbst bedeute, klagen Schwangerenberatungsstellen. Ein Grund sei die mangelnde Kommunikation von Ärzten und psychosozialen Beratern, sagt Heidemarie Neitzel vom Institut für Humangenetik der Charité. Sie hat zusammen mit der Soziologin Irmgard Nippert und anderen Wissenschaftlern im Auftrag des Bundesforschungsministeriums eine erste aktuelle Studie zu dem Thema erarbeitet und festgestellt, dass das Beratungsangebot in den deutschen Kliniken „sehr dürftig“ ist. Unter Gynäkologen sei die Einstellung weit verbreitet: „Wir können die Frauen sowieso am besten aufklären. Was braucht es da noch eine psychologische oder soziale Betreuung?“ Bei den niedergelassenen Ärzten komme dazu, dass sich Beratung schlecht bei den Krankenkassen abrechnen lasse.

Aber in Berlin, so Heidemarie Neitzel, sei das Angebot und die Vernetzung zwischen Ärzten und psychosozialen Beratern noch viel besser als in anderen deutschen Städten. Berlin ist sogar bundesweit Vorreiter. Klinikchef Dudenhausen sagt, durchaus selbstkritisch: „Es gibt in Berlin und auch in der Charité gute Ansätze, aber das Beratungsangebot kann verbessert werden. Wir müssen mehr mit den Sozialverbänden kooperieren.“

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