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Berlin: Abzwitschern mit der Schwalbe

Das DDR-Motorrad läuft und läuft und läuft...

„Das blaue Ding hier ist dem Rasenden Reporter sein Hocker“, sagt Jürgen Kasche und weist in Richtung des angewitterten Mopeds gleich hinter dem Eingang. Der Rasende Reporter Attila Weidemann vom ORB-Fernsehen ist wohl der prominenteste „Schwalbe“-Fahrer. Aber längst nicht der einzige. „Das Modell wird seit 20 Jahren nicht mehr gebaut, aber es werden immer mehr“, sagt Jürgen Kasche. Sein halbes Leben hat der 59-Jährige in dieser ölig riechenden, engen Werkstatt verbracht: Schönhauser Allee, zweiter Hinterhof, unsaniert, 13 Grad Raumtemperatur. Wenn er wollte, könnte Kasche sich auch ein paar Grad mehr leisten. Sein Job ist sicher, die paar Jahre bis zur Rente werden zügig vergehen. Jürgen Kasche repariert deutsch-demokratische „Simson“-Mopeds im Allgemeinen und „Schwalben“ im Besonderen.

Vor ein paar Monaten ist der Hersteller Simson im thüringischen Suhl endgültig Pleite gegangen; vor zwei Wochen wurden die Reste versteigert. Kasche war auch da – und ist mit leerem Transporter nach Berlin zurückgefahren, „denn die Leute da haben sich fast geprügelt und die Preise in völlig sinnlose Höhen getrieben.“ Also wird Kasche sich die Ersatzteile weiter anderweitig beschaffen; es gibt ja noch genug. Und viel geht an einer Schwalbe ohnehin nicht kaputt. Vielleicht mal ein Blinker, wenn sie umgefallen ist, oder die Bordelektrik ist während langer Jahre in feuchten Kellern abgestorben. Viele Schwalben sind nach der Wende in Abstellräumen verstaubt. Bis jemand merkte, dass Schwalbe fahren witzig ist, sie herausholte und von Jürgen Kasche wiederbeleben ließ. So werden es immer mehr.

Nüchtern betrachtet handelt es sich bei der Schwalbe um einen 50er-Jahre-Roller, der fast drei Liter Zweitaktgemisch pro hundert Kilometer schluckt, keine Tankanzeige hat und dessen Fahrsicherheit mit der Höchstgeschwindigkeit von 70 Stundenkilometern nicht mithalten kann. Dafür lässt er sich leicht reparieren, die Bleche sind solide, man sitzt schön aufrecht, und die Ausstattung reicht im besten Fall von Frontscheibe über Kindersitz und Taschenhaken am Lenker bis zur Anhängerkupplung. Und der 35-Watt-Scheinwerfer stellt „diese ganzen neumodischen Reiskocher“ in den Schatten, sagt Kasche anerkennend.

Das Vorderrad des orangefarbenen Exemplares, an dem er gerade schraubt, ist von Spinnweben regelrecht festgezurrt, aber sonst macht die Fuhre einen guten Eindruck. Kasche nimmt die Abdeckung zwischen den Trittbrettern ab, um an den Motor zu kommen. Ein Schild mit der Aufschrift „VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk Ernst Thälmann Suhl“ kommt zum Vorschein; es ist direkt auf ein Rahmenrohr geklebt. Auffahrunfälle sind kritisch, sagt Kasche, denn einen verzogenen Rahmen kriegt man kaum wieder hin. Ansonsten kann höchstens Rostfraß im Tank das Schwalbenleben gefährden. Ein Kunde hat das Problem folgendermaßen gelöst: Tank ausgebaut, Petroleum plus ein paar Hände voll Schrauben eingefüllt, Deckel drauf und das Ganze 24 Stunden lang im gut gepolsterten Betonmischer rotieren lassen. So sind sie, die „Schwalbe“-Fahrer. Oder?

Schwer zu sagen, findet Kasche. Seine Kundschaft ist gemischt; es sind viele junge Leute dabei, etliche stammen aus den alten Bundesländern. Für eine Studentenkutsche sei die „Schwalbe“ zu teuer: Selbst Exemplare mit mindestens fünf Vorbesitzern kosten umgerechnet fast noch den Neupreis von 600 bis 850 Euro.

Eigentlich ist im Winter Saure-Gurken-Zeit, aber für eine Sechstagewoche reicht Kasches Auftragslage allemal. Hin und wieder kommt auch ein Kunde rein, kauft eine Zündkerze, ein paar Schrauben, eine Kurbelwelle oder eine Hupe. Allmählich bekommt man einen Eindruck vom Durchschnittskunden: männlich, Anfang 30, schwarz gekleidet, gepflegte Umgangsformen.

Jürgen Kasche wäre es ganz recht, wenn die Leute technisch etwas versierter wären. Dann müsste er sich nicht so oft mit den Folgeschäden unsachgemäßer Schrauberei befassen und hätte endlich Zeit, seine eigene „Schwalbe“ zusammenzubauen. Die Teile liegen bereit und sind sogar schon lackiert. Rot-metallic. „Ich will mir die als Blickfang hinstellen“, sagt Kasche. Zum Fahren nimmt er dann doch lieber seine 600er BMW.

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