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Berlin: Adele Meischner (Geb. 1921)

Die Welt wurde anders, sie nicht. Sie spielte jeden Tag für sich und die Familie

Was empfand sie, als ihre Finger über die Tasten glitten und sie Beethovens „Appassionata“ spielte? Spürte sie Lampenfieber, wenn sie gemeinsam mit der Pianistin Adele aus der Ohe auftrat und ein Raunen durch den Saal lief? Was ging in ihr vor, wenn der Applaus aufbrandete, und das Publikum Zugaben forderte? Und was, wenn sie die Kritiken hörte?

Am Sonntag, dem 11. November 1928 fand im Deutschen Lyceum Club am Lützowplatz ein Konzertnachmittag der besonderen Art statt. Die königlich preußische Hofpianistin Adele aus der Ohe, die 1891 die Carnegie Hall in New York mit einem umjubelten Tschaikowsky-Konzert eröffnet hatte, spielte mit ihrem jungen Schützling Adele Meischner Werke von Schubert, Mozart und Beethoven. „Sie hat einen empfindsam weichen Anschlag, der das Geheimnis des entmaterialisierten Tones kennt “, vermerkte ein Kritiker.

Die Kritiken mussten ihr vorgelesen werden; sie selbst konnte nicht lesen. Adele war ohne Augen auf die Welt gekommen. Der liebe Gott hat sie wohl einfach vergessen, vermutete die Familie. Ihrem Bruder, ein Jahr später geboren, fehlte nichts. Folglich hatte er für sie zu sorgen. Hand in Hand liefen sie zum Spielplatz, dort setzte er sie auf eine Bank. Adele hörte, was geschah, aber sie konnte nicht mitspielen. Dennoch war sie ein glückliches Kind. Denn wie eine gute Fee war Adele aus der Ohe zu ihrer Familie gekommen, als Untermieterin. Sie war Schülerin von Franz Liszt gewesen, hatte Konzertreisen durch Europa und Amerika unternommen und sich aus nie geklärten Gründen nach Berlin zurückgezogen. Die Schwester von Paul von Hindenburg kam mit der Kutsche aus Dahlem in die Pariser Straße, um sie spielen zu hören. Diese begnadete Pianistin wurde Adeles Patin und gab ihr ab dem zweiten Lebensjahr Unterricht. Mit sieben Jahren gab ihr Zögling das erste Konzert und komponierte eine erste kleine Etüde, „Waldesrauschen“, die Adele aus der Ohe stolz zu Papier brachte. Das Üben war nicht einfach. Entweder ließ Adele sich die linke oder die rechte Hand einzeln vorspielen, oder sie übte nach Blindennotenschrift.

Als Adele aus der Ohe 1937 starb, wurde es einsamer um ihr Patenkind. Sie gab nach dem Krieg noch einige Konzerte, aber dann wurde es still. Es ging nicht mehr nur ums Zuhören, es ging um Stars. Die Welt wurde anders. Aber Adele nicht. Sie spielte jeden Tag für sich und die Familie.

Dass sie blind war, glaubte man nicht, wenn sie so dasaß, ein wenig in sich versunken, am Flügel, im Berliner Zimmer. An Liebe hat sie wohl nie zu denken gewagt. Hoch und heilig war die Person, die für sie sorgte. Sie war am liebsten zu Hause, hörte Radio, spielte Klavier. Dicke Bücher ließ sie sich zuschicken und natürlich „Readers Digest“ und den „Stern“, alles in Brailleschrift.

Sie hat nie mit ihrem Schicksal gehadert. Als die Familie die große Wohnung in der Pariser Straße Ende der achtziger Jahre aufgab, zog Adele in ein Blindenheim. Und alles blieb, wie es gewesen war. Sie hatte nun keinen Steinway-Flügel mehr, aber in ihrem Zimmer stand ein elektronisches Klavier.

An Weihnachten gab sie immer ein kleines Konzert, und natürlich spielte sie an den Geburtstagen all ihrer Neffen und Nichten. Sie hatte tausend Telefonnummern im Kopf. Am Geburtstag rief Tante Deta, wie sie von der Verwandtschaft gerufen wurde, stets als Erste an, gratulierte, und bat, dass man einen Musikwunsch äußere, gern auch etwas Populäres, denn sie hatte regelmäßig die „Schlager der Woche“ gehört und konnte die größten Hits nach dem Gehör spielen.

Als Adele Meischner auf die Welt kam, wurde es einen Moment still. Als ihre Urne zu Grabe gelassen wurde, ertönte Musik, ein Lied, das sie komponiert hatte. Gregor Eisenhauer

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