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Berlin: An Alltag ist nicht zu denken

Nina und Canan haben ein blaues Schulhaus gemalt, das Gutenberg-Gymnasium. „Wir denken an euch“, steht daneben.

Nina und Canan haben ein blaues Schulhaus gemalt, das Gutenberg-Gymnasium. „Wir denken an euch“, steht daneben. Andere haben Waffen gezeichnet und diese dick mit Rot durchgestrichen. Ihre Gedanken zur der Bluttat von Erfurt haben die Kinder der vierten Klasse der Schätzelberg-Grundschule in Mariendorf im Lebenskunde- und Religionsunterricht in Bildern zu Papier gebracht. Danach haben sie in einer Schweigeminute der Toten gedacht. In der vierten Stunde sprechen sie mit ihrer Lehrerin Antje Altmann über ihre Fernsehgewohnheiten. Der Bezug zu den Medien ist schnell hergestellt, da bei dem Erfurter Amokläufer Gewalt-Videos und Computerspiele gefunden wurden.

Das Spiel „Counterstrike“, das der 19-Jährige gespielt haben soll, kennen einige Jungen aus der sechsten Klasse. Denis etwa sitzt auch gerne vor dem Computer bei dem Spiel, bei dem es darum geht, so viele Menschen wie möglich umzubringen. Auf dem Bildschirm ballert er begeistert los, auf dem Schulhof aber hilft er als Konfliktlotse, Streitigkeiten unter Schülern zu schlichten und Konflikte nicht eskalieren zu lassen. An Gewaltspiele heranzukommen, ist für die Kinder kein Problem, erzählen sie auf Nachfrage ihres Lehrers; auch die indizierten Spiele sind für sie im Geschäft zugänglich. Sie wissen, dass man es ihnen eigentlich nicht verkaufen dürfte. Und was halten die Eltern davon? Die Mutter sei nicht begeistert, aber verbieten tue sie die Spiele nicht, sagt Robin. Die Mädchen der Klasse teilen das Interesse der Jungen an den Ballerspielen übrigens nicht. Ihr Lehrer Frank Bertram sieht es als großes Problem an, wie sehr die Kinder durch das Fernsehen an Gewaltdarstellungen gewöhnt sind. Es zeuge schon von einem hohen Maß an Frivolität, wenn auf manchen Sendern die Berichterstattung über Erfurt von brutalen Actionfilmen umrahmt werde.

Für Schulleiterin Jutta Kaddatz ist es an diesem Morgen selbstverständlich, dass mit den Schülern über die Tragödie von Erfurt geredet werden muss. Dass die Kinder jetzt vielleicht Angst haben, eine solche Tat könne sich in ihrer Schule wiederholen, befürchtet sie nicht. Aber man müsse der Sprachlosigkeit, die inzwischen in manchen Familien herrsche, entgegentreten. In einer dritten Klasse etwa hätten alle Kinder von Erfurt gewusst, aber drei von ihnen hätten am Wochenende überhaupt nicht mit ihren Eltern darüber reden können. Überhaupt hält sie es für wichtig, dass die Kommunikation zwischen der Schule und den Familien stimmt. Auf dem Gedenkschreiben im Foyer heißt es denn auch: „Lassen wir den Dialog mit unseren Schülern und ihren Eltern nicht abreißen.“Sigrid Kneist

Die Realität ist manchmal schwer zu begreifen. „Erst lacht man drüber. Aber dann wird einem bewusst, wie viele Menschen gestorben sind.“ So wie dem Zehntklässler Volkan Öztas, 17, ging es wohl vielen Jugendlichen am ersten Schultag nach Erfurt. An Alltag ist nicht zu denken, auch nicht am Leibniz-Gymnasium in Friedrichshain-Kreuzberg. Eine der 1000 Berliner Schulen, an denen sich Schüler und Lehrer Gedanken machen über Hintergründe, Motive, Prävention.

In der Leibniz-Schule gab es keine verordnete Besinnlichkeit, die Schweigeminute war für alle eine Selbstverständlichkeit. Auch Schulleiterin Christina Rösch ist nachdenklich. „Eine Schülerin hat gesagt, dass sie jetzt ihre Fähigkeit, andere Menschen einzuschätzen, generell in Frage stellt.“ Julia Zagorski, 16, macht sich Gedanken darüber, dass „die anderen ihn nur oberflächlich gekannt haben konnten“. „Er muss ein perfekter Geheimhalter gewesen sein“, sagt Julien Sieverling, 18 – monatelang nicht zu Schule gehen, ohne dass die Eltern etwas wissen. „Oder wissen wollten“, meint Moritz Fuchs, 17.

Der Fall Robert Steinhäuser: Für Wiebke Wagenführ, Kunst- und Deutschlehrerin sowie Lehrerausbilderin, ist er auch ein Beweis für das überholte Schulsystem. Schließlich dürfe die Schule die Eltern eines Volljährigen gar nicht ohne seine Einwilligung über schulische Angelegenheiten wie einen Verweis informieren. Ob im Sekretariat, im Lehrerzimmer oder auf dem Hof – alle sind davon überzeugt, dass die Attacke ein extremer Einzelfall ist, den auch keine Taschenkontrolle hätte verhindern können. Und doch macht man sich Gedanken, wie man auch weniger extremen Gewaltausbrüchen vorbeugen kann. „Außenseiter, die nicht viel mit anderen zu tun haben wollen und außerhalb der Schule in einer eigenen Welt aufgehen, müssen wir noch stärker integrieren“, sagt die Schulleiterin. Doch Lehrer würden viel zu wenig psychologisch ausgebildet, kritisiert Wiebke Wagenführ. „Und manche merken nach der Uni-Theorie in der Praxis zu spät, dass sie für den Job gar nicht geeignet sind.“ Doch auch außerhalb der Schule müssen Fehler gemacht worden sein, meint die Schulsekretärin. „Warum hat im Schützenverein niemand etwas mitbekommen?“

Ein Patentrezept zur Prävention von Kurzschlusstaten hat auch die Leibniz-Schule nicht parat. Eltern müssten stärker einbezogen, mehr Schüler zu Konfliktlotsen ausgebildet werden. Doch infolge der Pisa-Studie, befürchtet Frau Wagenführ, würden die Pädagogen noch mehr auf ihre Rolle als Wissensvermittler reduziert – und noch mehr Leistungsdruck weitergeben müssen. Jenen Druck, der letztlich den jungen Täter zum Ausrasten brachte. Annette Kögel

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