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Berlin: Anne Ego (Geb. 1952)

„Wie geht’s?“ „Du weißt, mein Gruß ist die Klage.“

Anne Ego ist im Unterland, ihrem Heimatdorf Haslach, unvergessen: Fechtunterricht bereits als Backfisch, ein grasgrüner Minirock, ein vom Vater übernommener Atheismus, verbunden mit ergreifendem Katholizismus, der fürs Dorf untypische Besuch einer höheren Schule, ihre gut frisierbaren Puppen aus Spitzgras oder das „Sozialtheater“ aus Versandkatalogschnipseln.

Die Fragen gingen Anne nicht aus. Mal fragte sie ihre Mutter: „Ist die Ehe nicht wie ein Vertrag, den man vorher nicht gelesen hat?“ Mal räsoniert das Kind am Ufer eines Teiches mit Blick auf die Häuser: „Das ist also ein Dorf.“

Anne war das dritte von fünf Kindern. Ihr Vater, Schlosser und Schmied und ein belesener Mann, war der einzige Atheist im Dorf und Freund des Pfarrers.

Mit 16 ging Anne nach Freiburg, lernte MTA und zog mit 21 nach Berlin. Sie machte ihr Abitur an der Abendschule mit 1,0 und studierte Geschichte und Philosophie, finanziert durch ein Stipendium für besonders Begabte. Mit widerborstigen Locken, Grübchen und Nickelbrille saß die Zierliche in den Seminaren und beeindruckte mit Wissen und präzisem Wortwitz. Sie besuchte Haugs Kurse über das Kapital, stand kommunistischen Ideen nahe und unterstützte Amnesty International. „Feminismus ist Humanismus und keine Mode“ – mit dieser Einstellung reiste sie in den Siebzigern alleine nach Albanien, Afghanistan, Persien und mit dem Orientexpress nach Peking. In den Achtzigern nach Libyen. Ein Gespräch mit Gaddafi schwebte ihr vor. Stattdessen fand sie im Hotel, unter ihrem Bett, einen Mann mit Messer. Ihr Schreien schlug ihn in die Flucht. Kurz darauf klopfte es: „Can I have my knife, please?“

Mit 24 zog Anne in die Hertastraße. Sie mochte Neukölln, wie Berlin überhaupt.

Dennoch freute sie sich auf Besuche im Unterland, nicht zuletzt wegen Mutters Krautkrapfen und Käsespätzle. Allein schmeckte ihr das Essen oft nicht, und sie ernährte sich hauptsächlich von Kaffee und Selbstgedrehten.

„Animalischer Magnetismus oder Aufklärung“, so der Titel ihrer Promotion; eine mentalitätsgeschichtliche Studie um ein Heilkonzept im 18. Jahrhundert. Trotz Auszeichnungen und gelegentlicher Dozententätigkeit blieb ihr eine Uni- Karriere verwehrt. Sie schrieb eine Biographie, fotografierte DDR-Industriebauten und schrieb wissenschaftliche Artikel und Kurzgeschichten. Zuletzt arbeitete sie an einem Hörspiel.

Ihre literarische Hassliebe galt Thomas Mann: In Naphta, Jesuit und Kommunist, sah Anne ein alter ego. Das Geld aus den verschiedenen Tätigkeiten hielt selten lang genug. Die Intermezzi beim Arbeitsamt machten sie bitter: die Schulungen, die sie besuchen sollte, um sich „von Idioten“ beibringen zu lassen, wie man Bewerbungen formuliert für Jobs, die es nicht gibt. Immer öfter antwortete sie Freunden auf die Frage „Wie geht’s?“ mit: „Du weißt, mein Gruß ist die Klage.“ Sie pflegte lange, intensive Freundschaften; gerne am Telefon, bevorzugt nachts. Ein wiederkehrendes Gesprächsthema war die Frage, wie man würdig aus dem Leben scheiden könnte. Eine längere Partnerschaft führte Anne nicht. Schwer zu sagen, was sie mehr besorgte: Unverbindlichkeit oder zu große Verbindlichkeit. Zumindest bedauerte sie, dass der schwäbische Konjunktiv „häbet se?“ zwischen „haben“ und „hätten“ nicht mit ins Hochdeutsche übernommen wurde. Was hätte man alles damit ausdrücken können.

Mit 55 starb Anne allein in ihrer Wohnung an den Folgen einer Lungenentzündung. Bei der Gedenkfeier sagten viele Freunde, sie hätten beim Lesen der Todesanzeige an einen Selbstmord gedacht. Annes Vater war bereits aus dem Leben geschieden, freiwillig aber gedrängt von etwas Quälendem, das auch Anne zu kennen schien, und das für sie, in den Augen ihrer jüngsten Schwester, am treffendsten in Jean Amerys „Ekel“ beschrieben wurde.

Anne Ego wurde am 7. Dezember in Herlazhofen im Allgäu im Grab ihrer Mutter beigesetzt. Anselm Neft

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