Berlin: Arzneimittelkosten: Aufstand der Ärzte: Kassen fordern Millionen für Medikamente zurück
Nach dieser Post brauchten manche Ärzte ein Beruhigungsmittel: Fehlendes Augenmaß wird ihnen vorgeworfen, viel zu großzügig hätten sie ihre Patienten im Jahr 1998 mit Medikamenten und Heilmitteln versorgt. Deshalb sollen 260 niedergelassene Ärzte jetzt 10 000 bis 150 000 Mark pro Praxis an die Kassen zahlen.
Nach dieser Post brauchten manche Ärzte ein Beruhigungsmittel: Fehlendes Augenmaß wird ihnen vorgeworfen, viel zu großzügig hätten sie ihre Patienten im Jahr 1998 mit Medikamenten und Heilmitteln versorgt. Deshalb sollen 260 niedergelassene Ärzte jetzt 10 000 bis 150 000 Mark pro Praxis an die Kassen zahlen. Alles Ausgaben für "übermäßige Verordnungen", die man von den Ärzten zurückfordert, wie ihnen der Prüfungsausschuss bei der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KV) mitteilt. In Einzelfällen werden sogar 1,4 bis 5 Millionen Mark in Rechnung gestellt. Viele Ärzte wehren sich. Sie warnen, durch die Regresse würden Behandlungsmöglichkeiten eingeschränkt.
Insgesamt praktizieren 5300 niedergelassene Mediziner in Berlin, deren Verordnungen von der KV und den Kassen zur "Dämpfung der Arzneimittelkosten" nach einem gesetzlich geregelten Verfahren überprüft werden. Zur Zeit konsequenter denn je, weil Kassen und KV angesichts der Debatte um steigende Beiträge zur Krankenversicherung nervös geworden sind.
Die meisten Berliner Ärzte konnten eine Rückzahlung bisher vermeiden. Doch bei den Verfahren für 1999 und 2000, die als nächste anstehen, werden laut KV voraussichtlich mehr Ärzte zur Kasse gebeten. Außerdem ist offenbar eine große Zahl von Medizinern angesichts knapper Arzneimittelbudgets und des Risikos, in die Regressmühle zu geraten, stark verunsichert.
Man stehe unter Druck, ein weniger wirksames, aber dafür billigeres Medikament aufzuschreiben, "damit wir die Behandlung nicht aus eigener Tasche bezahlen müssen", heißt es in Ärztekreisen. Als weiterer Ausweg werden kostspielige Medikamente abgelehnt, nur privat verordnet oder Patienten hin- und herüberwiesen, damit teure Präparate nicht das eigene Budget belasten. Und am Ende eines Quartals werden Behandlungen verschoben, falls das jeweils für drei Monate genehmigte Praxisbudget ausgeschöpft ist. Manche Ärzte machen in diesem Falle auch ein paar Tage frei.
Die gesetzlichen Krankenkassen zeigen dafür kein Verständnis. Nach Angaben der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) haben die für 1998 in Regress genommenen Mediziner unnötige Mehrkosten im Wert von 35 Millionen Mark verusacht, die man sich nun zurückholen wolle. Insgesamt wurden in Berlin im vergangenen Jahr 1,62 Milliarden Mark für Medikamente ausgegeben. Die Ärzte, sagt AOK-Sprecherin Gabriele Rähse, hätten noch längst nicht das Sparpotenzial bei Arzneimitteln ausgeschöpft. Als Beispiel nennt sie Generika. Sie sind weitgehend zusammengesetzt wie ein Originalpräparat, dürfen aber nach Ablauf von dessen Patentschutz billiger verkauft werden.
Mediziner halten dagegen, Generika seien schon alleine deshalb kein Allheilmittel für Budget-Probleme, "weil sie nicht jeder verträgt". Es geht beim Streit um die Arzneimittel-Regresse also letztlich um die Gretchenfrage, ob Berlins niedergelassene Ärzte ihre Patienten mit den vorhandenen Kassengeldern noch optimal versorgen können.
Überzieht ein Arzt sein Budget um mehr als 25 Prozent, gerät er in das Prüfverfahren. In diesem Falle entscheidet ein mit Kassen- und KV-Vertretern besetzter Ausschuss anhand der Praxisdaten, ob sich die Überschreitungen durch Besonderheiten rechtfertigen lassen. Das könnte ein hoher Anteil von Tumor- oder Rheumapatienten sein, die kostspielige Medikamente brauchen. Geben die Daten aus Sicht des Ausschusses zu wenig her, verhängt er den Regress.
Doch fast alle betroffenen Mediziner wehren sich und ziehen vor die zweite Instanz - den Beschwerdeausschuss. Hier können sie persönlich auf Praxisbesonderheiten pochen, fallen sie durch, bleibt ihnen der Weg zum Sozialgericht. Schon jetzt zeichnet sich eine Prozesslawine ab. Und die Kläger haben gute Chancen. Denn zum einen lieferten die Kassen laut KV "schlampige Prüfunterlagen". Rezepte von Ärzten seien vertauscht und Kosten dadurch dem Falschen angelastet worden. Außerdem lassen sich Arztpraxen schwer vergleichen. Ihre Patientenstrukturen sind hochdifferenziert. Wer hier verlässlich gewichten will, muss soziale Aspekte wie den Anteil von Kindern, Alten oder sozial Schwachen, die häufig krank sind, ebenso berücksichtigen wie den Prozentsatz von Allergikern, Krebspatienten und anderen "teuren" Hilfesuchenden. Doch man weiß noch nicht einmal, wie viele Allergiker eine durchschnittliche HNO-Praxis hat. Vergleichsdaten fehlen, das Raster ist grob. Eine ganze Reihe von Praxisbesonderheiten lassen sich kaum nachweisen, weshalb die Prüfer "oft heckenschnittmäßig vorgehen", so ihre Kritiker.
Wegen der unsicheren Datenlage sahen sich Kassen und KV in Nordrhein-Westfalen nicht in der Lage, den gesetzlichen Prüfauftrag zu erfüllen. Sie verzichten auf Regressverfahren. In Berlin setzten die Kassen die Aktionen anfangs gegen den Willen der KV durch. Bei den niedergelassenen Medizinern ist die Stimmung seither auf dem Tiefpunkt. Hinzu kommt: Wer vor dem Beschwerdeausschuss eine Chance haben will, muss tausende Rezepte sichten und Statistiken erstellen. Eine tagelange unbezahlte Arbeit. Demnächst werden sich vermutlich noch mehr Ärzte auf diese Weise beschäftigen: Ab 2000 droht schon Regress, wenn sie ihr Budget um 15 Prozent überschreiten.