Berlin: Berlin leuchtet
Der neue Blick: Früher wurde die Stadt meistens gezaust, heute gepriesen – so in der Titelgeschichte des neuen „Spiegel“
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„Berlin leuchtete.“ Ein völlig unglaubwürdiger Satz, niemand hätte ihn Thomas Mann abgenommen, und so spielte seine Erzählung „Gladius Dei“ denn auch nicht an der Spree, sondern an der Isar, und der erste Satz ging so: „München leuchtete.“ München, nicht Berlin!
So war nun mal das Städte-Ranking im Jahre 1902, und so blieb es, mit oder ohne Dichterworte, über lange Strecken des folgenden Jahrhunderts. Dort die heimliche Hauptstadt, Metropole des Glanzes und Glamours, hier die offizielle, von der eigenen Größe meist mehr überzeugt, als ihr guttat, gegen die man aber im Lande draußen manchen Einwand, ja eine regelrechte Aversion hatte. Berlin-Bashing – das war über die Jahrzehnte beliebter Sport bei Berufenen wie Unberufenen. Berlin galt als Parvenü, als Neureiche ohne Stil, wobei der Reichtum zuletzt immer schneller versickerte, eine Scheinfassade auf Pump. Café Größenwahn – wo sonst hätte man ein Lokal so benennen können, wenn nicht in Berlin.
Aber es geht auch anders, solche Skepsis gegen die Stadt und ihre Bewohner muss nicht sein. Ja, sie scheint zu schwinden und Berlin zunehmend an Leuchtkraft zu gewinnen. „Großstadt ohne Größenwahn“, so überschreibt „Der Spiegel“ die Titelgeschichte seiner aktuellen Ausgabe, feiert gar auf dem Deckblatt Berlin und das „Comeback einer Weltstadt“.
Wenn man frühere „Spiegel“-Werke zu unserer kleinen Stadt dagegenhält, kann man einen gewissen Wandel der Perspektive kaum leugnen. „So häßlich kann Berlin sein“ – nicht sehr schmeichelhaft eröffnete der damalige „Spiegel“- und heutige Tagesspiegel-Redakteur Harald Schumann vor zwölf Jahren sein Porträt der angehenden Superstadt, die sich gerade anschickte, gleich Phönix aus der Asche zur neuen Europa-Metropole aufzusteigen. Zwar lobte er „Pioniergeist und Aufbruchstimmung“, schilderte die ehrgeizigen Planungen, doch war eine gehörige Portion Skepsis gegenüber der „protzigen Metropolenplanung“ und der absehbaren „öffentlichen Pleite“ deutlich zu spüren. Und im „Zeit“-Dossier „Kleine Stadt ganz groß“ vor fünf Jahren mochte die Autorin Annette Meyhöfer Berlin allenfalls als „Behauptungsstadt“ durchgehen lassen.
Doch der Blick von außen auf die Stadt wird offensichtlich milder, nicht erst seit dem Fußballsommer des vergangenen Jahres. Der hat die Stadt in der Tat in ein schwarz-rotes und vor allem goldenes Licht getaucht, ohne dass man an die von Fahnen umwehten Allmachtsfantasien früherer Jahrzehnte erinnert wurde. Auch Bilder wie das von Dustin Hoffman beim Berlinale-Discobesuch oder von Angelina Jolie und Brad Pitt beim Hauptstadtbummel haben Stückchen für Stückchen geholfen, das Image zu wandeln, von Wowereits schon klassischem „arm, aber sexy“ ganz zu schweigen.
Für all diesen Wandel stellt „Der Spiegel“, darin hoffentlich stellvertretend für das kollektive Berlin-Bild in diesem Land, uns nun also die Rechnung aus. Sie fällt, verglichen mit der desolaten pekuniären Bilanz, sehr erfreulich aus, ja, nimmt auf den Gipfeln der Formulierungskunst, zu der die 16 Autoren sich aufschwingen, geradezu religiöses Format an. Berlin, so liest man nun also allüberall im Lande, feiere „seine Wiederauferstehung als Weltbürgerstadt“. Verblasst sei die finstere Vergangenheit, jetzt finde die alte Preußenhauptstadt „fröhlich, frech und manchmal mit dreister Leichtigkeit“ zu einer „neuen Identität“, sei gar für Deutschland und Europa „ein Labor der Zukunft“ – ohne sich deswegen gleich wieder zu Größenwahn zu versteigen. Bei seiner Sicht holt sich „Der Spiegel“ auch Bestätigung von außen: Berlin sei wie New York in den Achtzigern, habe neulich in der „New York Times“ gestanden – wobei hiesigen Lesern die Lobpreisungen des Hamburger Magazins ja schon voll und ganz genügen dürften – das erfreulicherweise auch die Schattenseiten des neuen Glanzes, die astronomische Verschuldung, die Kluft zwischen Arm und Reich, nicht verschweigt.
Nur beim Titelbild, einer Berlinisierung der berühmten New-York-Grafik Saul Steinbergs von 1976, vorne Manhattan, hinten der Rest der Welt, hätte man sich mehr geografische Sorgfalt gewünscht. Zwar erträumte sich schon Tucholsky als Berliner Wohnung „eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße“. Aber kein Weg führt, wie auf dem „Spiegel“-Titel suggeriert, vom Brandenburger Tor über die Siegessäule direkt in den Pazifik.
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