zum Hauptinhalt
Touristen fotografieren sich selbst vor dem berühmten Bild „The Kiss“ an der East Side Gallery in Berlin-Friedrichshain.

© mauritius images/Alamy/galit seligmann

Berliner sein auf Zeit: Das neue Selbstbild der Touristen

Der Tourismus dringt immer tiefer in den Alltag der Berliner vor. Über einen im Lichte der akuten Krisen des Tourismus unterschätzen Wandel.

Christoph Sommer
Eine Kolumne von Dr. Christoph Sommer

Stand:

Wer vor 30 Jahren als Tourist nach Berlin kam, blieb vermutlich drei Tage, schlief im Hotel, aß eine Currywurst, schaute sich das Brandenburger Tor an und fuhr dann wieder. Heute ist das anders. Heute kann man Tourist sein, ohne im Hotel zu schlafen, ohne eine Currywurst zu essen und ohne das Brandenburger Tor zu besichtigen. Stattdessen kann man via App bei Berlinern schlafen und sich von ihnen die Stadt zeigen lassen, man kann in einem Hostel einchecken und sich einen Arbeitsplatz in einem Co-Working-Space mieten. Kurz gesagt: Man kann „Kurzzeit-Berliner“ sein.

Zumindest ist das das Versprechen, das sich beispielsweise hinter der Airbnb-Kategorie „Entdeckungen“ verbirgt. Das Prinzip: „Zeige anderen, was du gerne machst, und verdiene dir dabei damit etwas dazu“, um es mal im Wortlaut der Plattform widerzugeben. Worum geht es Airbnb? Nun, es soll den Berlinern schmackhaft gemacht werden, nicht nur ihre Wohnung als Urlaubsunterkunft zu bewirtschaften, sondern am besten auch ihre Hobbies.

Vom Duktus her mag das nach IKEA-Werbung klingen, inhaltlich wird mit diesem Angebot jedoch die urtouristische Suche nach Authentizität auf ein neues Level gehoben. Authentische touristische Erfahrungen werden schon immer eher abseits der ausgetretenen Pfade gesucht. So scheint etwa die urbane Selbsterfahrung in den als quirlig und divers empfundenen Kiezen Nordneuköllns besonders gut möglich. Doch heute geht es nicht mehr nur darum, „Szeneviertel“ (wie man früher gesagt hätte) aufzusuchen. Heute geht es darum, und sei es gegen Geld, mitzumachen bei dem, was Berliner „gerne machen“.

Am Beispiel der Airbnb-„Entdeckungen“ drängt sich die schleichende Durchdringung städtischer Alltage durch den Tourismus zugegebenermaßen besonders deutlich auf. Es genügt jedoch ein kursorischer Blick auf das stadttouristische Geschehen der Gegenwart, um weitere tiefgehende Verquickungen von Stadt- und Tourismus auszumachen. Ein Gebiet ist das der Geschäftsreisen. Sicherlich hat der touristische Gehalt von Geschäftsreisen schon immer stark variiert. Unter dem Rubrum der so genannten „Workation“ ist es aber offenbar möglich geworden, Arbeit und Vergnügen als eigenständiges Produkt zu synthetisieren.

Der Autor Dr. Christoph Sommer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Umweltplanung an der Leibniz Universität Hannover. Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem Tourismus in Berlin.

© privat

Ebenso verschwimmen die Unterscheidungsmerkmale, mit denen man früher im Destinationsmanagement (in und für Berlin machen das die Tourismuswerber von visitBerlin) so genannte touristische Leistungsträger abgegrenzt hätte. Berliner werden nicht nur dann zu touristischen Anbietern, wenn sie ihre Wohnungen bei Airbnb anbieten. Denkt man beispielweise an all die nutzergenerierten Inhalte, die auch Berliner auf Bewertungsportalen und in sozialen Medien hinterlassen, wird schnell klar, warum der Baedecker seine Autorität als Reiseführer eingebüßt hat. Stadtbewohner sind längst zu „Prosumenten“ geworden, wenn sie – online bewertend – durch die städtische Erlebnistopografie navigieren.

Die Spielarten der „Veralltäglichung“ des Tourismus sind unbestritten vielfältig. Weitere Beispiele fänden sich viele, so beispielsweise auch auf dem Gebiet des möblierten wie touristischen Wohnens in so genannter Serviced Apartments. Die Frage, die sich mit Blick auf diese zunehmende Durchdringung von Alltag und Tourismus stellt, ist, ob sie über das Private hinaus von öffentlicher, also stadtpolitischer, Relevanz ist.

Die Regulierung der Zweckentfremdung von Wohnraum (aufgrund von Airbnb und Co) hat in den vergangenen Jahren vor dem Hintergrund des angespannten Wohnungsmarktes sicherlich am meisten stadtpolitische Aufmerksamkeit erfahren. Aktuell binden vor allem die Energie- und Preissteigerungskrise, die auch veritable Krisen des Tourismus sind, die tourismuspolitische Aufmerksamkeit. Dennoch zeichnet sich im städtischen Tourismusmanagement zumindest eine begriffliche Sensibilität für die zunehmende Durchdringung von Stadt und Tourismus ab. So antwortete visitBerlin-Geschäftsführer Burkhard Kieker auf eine Interviewfrage, warum ihm sein Job in der Tourismusbranche Spaß mache, dass es nichts Interessanteres gäbe, als das was die „Visitor Economy“ in Berlin zu bieten habe.

Der Begriff der „Besucherökonomie“ erklärt letztlich alle Menschen, die sich kurzzeitig in Berlin aufhalten, zu Besuchern. Es ist dann nebensächlich, ob der Wochenendbesuch aus dem Ruhrgebiet zum „Kurzzeit-Berliner“ oder der Spandauer in Köpenick zum „Touristen“ erklärt wird. Entscheidend ist, was die Besucher machen, wenn sie Besuche machen – und hier wird die zunehmende touristische Durchdringung des Alltags durch Tourismus künftig nicht nur Freude machen, sondern auch Fragen aufwerfen.

Dr. Christoph Sommer ist Stadt- und Tourismusforscher an der Leibniz Universität Hannover und Mitbegründer der Forschungsgruppe „New Urban Tourism“ am Berliner Georg Simmel Zentrum für Metropolenforschung

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })