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Altwerden ohne Angst: In Berlin erfüllen Senioren-WGs die Rolle der klassischen Familie
Sieben Menschen, ein Frühstückstisch – und der Wille, das Altwerden neu zu denken. Berliner Senioren zeigen, wie Gemeinschaft im Alter funktioniert. Ihr Modell könnte Schule machen.
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Einsam im Heim altern – diese Vorstellung macht vielen Menschen Angst. „Ich weiß nicht, welche Hilfe ich einmal brauchen werde“, sagt Katrin Mugele (69), „aber als zu Pflegende und als pflegende Angehörige sind wir auf Gemeinschaft angewiesen.“ Mugele plant eine Alten-WG. „Wir haben in unserer Gruppe zwei Männer, die ihre pflegebedürftigen Frauen versorgen.“ Außerdem dabei: vier weitere alleinstehende Frauen, die ihre Partner oder Eltern bis zu ihrem Tod gepflegt haben.
Die Gruppe, alle zwischen dreiundsechzig und fünfundsiebzig Jahre alt und überwiegend ohne Kinder, sucht deshalb zusammen ein Wohnprojekt zur Miete. Sie wollen Teilhabe bis ins hohe Alter und die Sicherheit, dass immer jemand da ist.
Einer der beiden Männer – er möchte anonym bleiben – kümmert sich schon seit 14 Jahren um seine Frau, die nach einem Schlaganfall pflegebedürftig wurde. Vormittags organisiert er Therapietermine, nachmittags Freizeitaktivitäten. „Ich wünsche mir, ab und zu etwas allein erledigen zu können“, sagt der 75-Jährige.
Die Gruppe hat vor einem Jahr einen Verein gegründet: Gemeinschaftlich Wohnen. Inklusiv. Ü55. e.V. Ihr künftiges Zuhause soll barrierefrei sein, gut an den Nahverkehr angebunden und natürlich Platz haben sowohl für Miteinander als auch für Rückzug.
Der Verein stellt sich nun bei Politikern und kommunalen Wohnungsunternehmen vor und hofft auf Unterstützung. Sieben Mitglieder sind auf einen Wohnberechtigungsschein angewiesen, zwei erhalten keinen. In dieser Konstellation etwas zu finden, sei schwierig, erklärt Katrin Mugele.
Genossenschaftliches Wohnen scheidet aus finanziellen Gründen aus. „Viel Zeit zum Suchen haben wir nicht mehr“, sagt auch der pflegende Angehörige, der als Sozialarbeiter ebenfalls schon Wohnprojekte aufgebaut hat.
Großer Bedarf nach gemeinschaftlichem Wohnen im Alter
„Fünf Jahre sollte man sich Zeit nehmen, um eine Gruppe und ein Objekt zu finden“, sagt Sabine Sternberg von der Netzwerkagentur GenerationWohnen bei der Stadtentwicklungsgesellschaft Stattbau. „Manche haben Glück und es geht deutlich schneller.“
Seit 2008 berät die Agentur Menschen jeden Alters, die gemeinschaftlich wohnen möchten. Sie informiert über verschiedene Modelle und bringt Interessierte zusammen, egal ob sie mieten oder bauen wollen.
„Auf dem Wohnungsmarkt ist etwas in Bewegung“, beobachtet Sternberg. Bei Neubauten werde barrierefreies, gruppengeeignetes Wohnen zur Miete nun häufig schon frühzeitig mitgedacht, sowohl von den landeseigenen Wohnungsunternehmen als auch von privaten Projektentwicklern.

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Ein aktuelles Beispiel ist das Lichtenrader Revier, das beim Deutschen Städtebaupreis 2025 ausgezeichnet wurde. Nur sollte man sich keine Illusionen machen: Wohnlagen am Stadtrand seien leichter zu realisieren als zentrale Lagen. „Darauf können sich nicht alle Gruppen einigen“, ergänzt Sternberg.
Die Nachfrage nach gemeinschaftlichem Wohnen zur Miete ist in Berlin sehr groß, gerade auch unter Älteren. Alleinstehende ab 55 Jahren wünschen sich das laut einer Befragung der Netzwerkagentur am häufigsten, insbesondere Frauen.
Gemeint ist aber nicht unbedingt die klassische Familienwohnung, in der jeder ein eigenes Zimmer hat. Beliebt ist die Hausgemeinschaft: Jede Partei hat eine eigene Wohnung, dazu gibt es Gemeinschaftsräume.
Cluster-Wohnungen liegen ebenfalls im Trend: Sie bestehen aus getrennten Wohneinheiten mit eigenem Bad, eventuell auch Teeküche, die in einer Gemeinschaftswohnung mit geteilter Küche, Wohn- und Essbereich liegen.
Leidenschaft beim Frühstück
Ein gedeckter Frühstückstisch und drei Stimmen, die sich ständig ins Wort fallen: Silvia (76), Ute (71) und Dirk (82) haben geschafft, wovon andere träumen. Sie heißen anders, möchten aber mit ihren echten Namen nicht in der Öffentlichkeit stehen. Seit etwa sechs Jahren leben sie in einer Hausgemeinschaft im Brunnenviertel in Berlin-Gesundbrunnen.
Zu siebt bewohnen sie fünf Singlewohnungen und eine Paarwohnung bei der Wohnungsbaugesellschaft Degewo zur Miete. Einmal pro Woche frühstücken sie gemeinsam, mindestens einmal im Monat gibt es Organisationstreffen.
„Wir sind alle so schnell aufgebracht“, sagt Silvia, „eine Ehe ist Pipifax dagegen.“ Ein Ratgeber zum Thema Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht liegt vor ihr. Diese Dokumente legen fest, welche medizinischen Behandlungen man möchte und wer Entscheidungen treffen darf, wenn man selbst so schwer krank oder eingeschränkt ist, dass man es nicht mehr kann. „Das ist unser Thema“, sagt sie.
Mit dem Verein haben sie schon einen Termin, um das untereinander zu klären. So bereiten sich auch vorausschauende Paare und Familien auf den Notfall vor. Verwandt oder verheiratet muss man dafür aber nicht sein.
Zu siebt bilden sie eine Gruppe in zwei Gebäuden. Die Degewo hat mit dem Verein eine Vereinbarung geschlossen, die ihnen ihre Wohnungen zusichert. Manche sind auch hier mit Wohnberechtigungsschein, stehen also nur Mietern mit niedrigem Einkommen zu. Ein Paar lebt gemeinsam in einer Drei-Zimmer-Wohnung, die anderen allein in Ein- bis Drei-Zimmer-Wohnungen.

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Die Gemeinschaft ist stolz, zur Miete zu wohnen. Im Gegensatz zu den meisten anderen WGs, die als Genossenschaften oder Eigentümergemeinschaften organisiert sind.
Ihr Projekt habe nur funktioniert, weil sie architektonisches Know-how in der Gruppe haben, erläutert Silvia, die selbst Stadtplanerin ist und mit der Initiatorin der Gruppe seit fünfzig Jahren befreundet. Sie wollte bewusst keine Kinder haben, sagt die Alleinstehende. Eine Nichte habe sie. „Ich möchte ihr aber weder Arbeit noch Beerdigungskosten aufhalsen.“
„Ich bin vor zwei Jahren wegen meines Sohns nach Berlin gezogen“, erzählt Ute, die zuvor in Österreich und Bayern gelebt hat, „aber ich will ihn gerade als Einzelkind nicht belasten.“
Gemeinsam vorsorgen für das hohe Alter
Die jungen Leute hätten mit ihrer Arbeit und ihren Kindern genug zu tun, so die Künstlerin und Kunstdozentin. „Die Familienkümmerung geht zurück“, meint Dirk.
Er war als Bauingenieur und Soziologe tätig und ist ehrenamtlich umtriebig wie ein jugendlicher Aktivist. Die Vorsorge regelt er mit seiner Partnerin, die ebenfalls Teil der Hausgemeinschaft ist.
Silvia, Ute und Dirk werden von derselben Hausärztin behandelt. Dass die Ärztin sie alle kennt, macht vieles leichter, vom Rezeptabholen bis zum Auskunftbekommen. Eine Mitbewohnerin hatte vor Kurzem einen schweren Autounfall und lag im Koma. Das empfand die ganze Gruppe als Warnschuss. Jetzt bereiten sich alle auf den Notfall vor.
Wenn sie sich ins Wort fallen, meinen sie, der andere weiche vom Thema ab. Gehört es zum Thema, wenn sie einer Mutter im Haus helfen, deren Mann mit vierzig Jahren plötzlich gestorben ist, auch wenn sie nicht im Verein ist?
Hoffeste für den Neubaukomplex mit über 100 Mietparteien zu organisieren – ist das nicht auch gelebte Gemeinschaft? Was ist mit dem Füttern von Haustieren, dem Patenprojekt mit der Schule zur Pflege von Bäumen, ihrem Engagement im Kiezzentrum? Darüber, was Gemeinschaft für sie bedeutet, streiten die Bewohner sichtlich gerne.
„Wir wollen nicht nur im Sterben, sondern im Leben füreinander da sein“, sagt Silvia. Die anderen stimmen zu, es ist ein Moment der Einigkeit. Und als der einzige Mann die Runde verlassen hat, verraten die Frauen, was ihnen sonst noch fehlt: „Männer gibt es in unserem Alter nur im Paar“, sagt eine.
Cluster-Wohnen im Möckernkiez
„Wir haben uns gerade noch mal versichert, dass unsere Vollmachten alle auf dem neuesten Stand sind“, sagt Ulrike Arnold, bevor sie sich in ihre WG-Runde setzt. Sie sind zu siebt, zwischen Anfang sechzig und Mitte siebzig, und leben mit Hund Pim in Kreuzberg.
Dazu gehören Ulrikes Ehemann Harald, das Paar John und Olof sowie Iris, Eveline und Susanne. Ihre Nachnamen möchten die Mitbewohner nicht veröffentlicht sehen. Die WG „Lebendig Altern“ ist eines der Vorzeigeprojekte in Berlin. Seit über zehn Jahren machen sich Ulrike und Harald Gedanken darüber, was sorgende Gemeinschaften brauchen.

© Ulrike Arnold
2018 sind sie in ihre Cluster-Wohnung eingezogen. Auf zwei Etagen hat jeder einen eigenen Wohnbereich mit Bad, dazu eine Gemeinschaftsküche mit offenem Wohn- und Esszimmer. Eine achte Wohneinheit halten sie für eine Pflegekraft frei. Bisher wurde sie aber nicht gebraucht.
Sie haben eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) gegründet und sind damit Teil der Möckernkiez-Genossenschaft. Dafür mussten sie jeweils 50.000 Euro Einlage zahlen und die Genossenschaft musste erst die Satzung ändern.
Jetzt gilt: „Der letzte macht das Licht aus“, prustet jemand in der Runde heraus. Ihre GbR sei so lange Mitglied der Genossenschaft, bis kein Bewohner mehr lebt.
Ulrike Arnold ist zuständig Anfragen von anderen Gruppen, Verbänden und Medien. In der Öffentlichkeitsarbeit sieht sie eine gesellschaftspolitische Mission: „Wir wollen, dass es andere nachmachen.“
Der Mitbewohner John sieht die WG als Vorbild in Sachen Klimaschutz: „Unser Fußabdruck ist sehr klein.“ Der Stromverbrauch betrage nur 4700 Kilowattstunden pro Jahr, so viel wie eine vier- bis fünfköpfige Familie.
Wir haben vorher alle in großen Wohnungen gewohnt und empfinden die Reduktion als Bereicherung.
Ulrike Arnold, WG Lebendig Altern
„Wir haben vorher alle in großen Wohnungen gewohnt und empfinden die Reduktion als Bereicherung“, ergänzt Ulrike Arnold. Zwei Waschmaschinen genügen für den gemeinsamen Haushalt. Alle gehen mal einkaufen und sie kochen reihum. Das bringe auch für Vielfalt auf den Speiseplan.
„Etwa 100 Euro pro Person und Monat sparen wir beim Einkauf im Vergleich zum früheren Leben als Single oder Paar“, hat der Mitbewohner Harald ausgerechnet, „deshalb müssen wir nicht darüber reden, wenn jemand Aufschnitt kauft, den die anderen nicht mögen.“
Befreundet sein müsse man nicht unbedingt, bevor man eine WG gründet, meint er. Eine ähnliche finanzielle Situation und ähnliche politische Werte seien aber Voraussetzung. Wenn es eine freie Wohneinheit gibt, können Interessierte eine Woche Probewohnen – dann wissen beide Seiten sehr schnell, ob es passt.
Sonntags beim Frühstück planen die Bewohner gemeinsam die Woche. Alle sechs Wochen treffen sie sich zu einem Jour fixe für größere organisatorische Themen. Wenn sie ihre Vorstellungen von der Zukunft abgleichen wollen, schreiben sie alle etwas dazu auf, lesen es sich gegenseitig vor und sprechen offen darüber.
Wir sind füreinander wie eine Versicherung.
Ulrike Arnold, WG Lebendig Altern
„Wir sind füreinander wie eine Versicherung“, meint Ulrike Arnold, „man investiert und hofft, dass der Schadensfall nicht eintritt.“ Als ihre Mitbewohnerin Heidi letztes Jahr unerwartet verstorben ist, wurde die WG erstmals mit der Endlichkeit ihrer Mitglieder konfrontiert.
Alle haben sich um sie gekümmert, auch wenn die Mitbewohnerin Eveline, die Schwester, die Hauptlast trug. Die WG gab zu Heidis Gedenken ein Fest, fuhr zur Seebestattung an die Nordsee und unterstützte Eveline bei der Haushaltsauflösung und bei den Nachlassangelegenheiten.
Alle drei Gruppen empfehlen, sich möglichst schon zum Ende des Berufslebens, wenn man noch fit ist, mit der Frage auseinanderzusetzen, wie man im Alter wohnen möchte.
Die Wohnprojekte setzen dem Schreckgespenst Alter eine mutige und lebensbejahende Vision entgegen. Was dafür fehlt, ist geeigneter und bezahlbarer Wohnraum. Wo der vorhanden ist, können solche Modelle Stadtquartiere bereichern und älteren Menschen echte Teilhabe ermöglichen.
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