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Zwangsarbeit im Nationalsozialismus: Besser jetzt als nie mit der Unternehmensgeschichte befassen
Viele Unternehmen haben in der NS-Diktatur von Zwangsarbeit profitiert, scheuen aber bis heute die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte. Eine Veranstaltung in Berlin soll zeigen, warum sich die Arbeit lohnt.
- Andrea Despot
- Annemarie Hühne-Ramm
Stand:
Auf rund vier Millionen Menschen schätzen Befragte des MEMO-Erinnerungsmonitors die Zahl der NS-Zwangsarbeiter:innen. Tatsächlich waren es 26 Millionen, die in Deutschland und den besetzten Gebieten von den Nazis zur Arbeit gezwungen wurden – ohne Bezahlung, ohne Rechte, ohne Würde. Zwangsarbeit war überall, allein in Berlin waren es mehr als 400.000 Menschen.
Die deutsche Wirtschaft war umfänglich an diesen NS-Verbrechen beteiligt. Diese Tatsache ist heute allerdings kaum bekannt.
Zwangsarbeiter:innen, die Mehrzahl von ihnen aus Osteuropa verschleppt, wurden dabei in allen Branchen eingesetzt: von der Rüstungsindustrie bis zum Straßenbau, vom Mittelständler bis zum landwirtschaftlichen Betrieb. Einige von ihnen waren in Konzentrationslagern inhaftiert, andere in eigens geschaffenen Zwangsarbeiterlagern mitten in Wohngebieten.
Gedenkstätten, wie etwa das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Schöneweide, leisten wichtige Arbeit, diese Verbrechen sichtbar zu machen. Unternehmen, die von Zwangsarbeit profitierten, können dabei ebenfalls eine Rolle spielen, wie der Weg zur Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft zeigt.
Späte Anerkennung des erlittenen Unrechts
Im Jahr 2000 wurde die Stiftung EVZ gegründet, um Zahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter:innen zu leisten. Damit erhielten die Betroffenen oft zum ersten Mal eine symbolische finanzielle Summe. Eine späte Anerkennung des erlittenen Unrechts und der entgangenen Lebenschancen. Das Geld hierfür kam je zur Hälfte vom deutschen Staat und von der „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“, in die rund 6500 Unternehmen – auch mit dem Ziel, Rechtsfrieden für Entschädigungsansprüche zu erreichen – eingezahlt hatten.
Für viele Unternehmen, darunter die Bayer AG als eines der Nachfolgeunternehmen der I.G. Farben, war dieses finanzielle Engagement ein erster Schritt, sich der eigenen historischen Verantwortung zu stellen.
In den letzten Jahren hat sich im Chemieunternehmen Bayer die Auseinandersetzung mit seiner Geschichte verstärkt – spät, aber nicht zu spät. So hat die 2023 durch Bayer gegründete Hans und Berthold Finkelstein Stiftung den Auftrag, die Erinnerungskultur im Unternehmen zu stärken, die Forschung zur I.G. Farben voranzutreiben und zivilgesellschaftliche Projekte zu fördern.
Die Stiftung EVZ engagiert sich heute humanitär, fördert bildende Erinnerungsarbeit und Demokratie. Geschichtsbewusste Unternehmen wenden sich immer wieder an die Stiftung EVZ mit dem Wunsch, sich zu engagieren.
Viele Unternehmen fürchten einen Reputationsverlust
Dennoch fällt manchen Unternehmen der Umgang mit ihrer Vergangenheit nach wie vor schwer. Oft mögen Berührungsängste dahinterstehen, auch die Sorge vor Reputationsverlust. Doch die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zeigt: Sie ist nicht nur Selbstzweck, sondern kann die eigene Glaubwürdigkeit sogar erhöhen. Das ist enorm wichtig für die Mitarbeiterbindung, aber auch für die öffentliche Wahrnehmung.
Wie für die Bayer AG, ist es auch für andere Unternehmen nie zu spät. Da Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus auf dem Vormarsch sind, ist genau jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Demokratische Werte geraten aktuell unter Druck. Viele Firmen engagieren sich bereits. Mit ihren Produkten und Dienstleistungen prägen sie unsere Lebenswelt, und als Arbeitgeber den Alltag vieler Menschen.
Dies bedeutet große Verantwortung, aber auch große Chancen. Die eigene Geschichte zu kennen, im Zweifelsfall auch zu wissen, wo das eigene Unternehmen in der Vergangenheit moralisch versagt hat – das befähigt dazu, glaubwürdig für inklusive Werte und eine vielfältige Gesellschaft einzustehen.
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