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„Den Ernst der Lage nicht erkannt“: Die Politik verschläft die Transformation der Industrie
Robert Drewnicki, ehemals Mitarbeiter von Michael Müller, engagiert sich für die IG Metall im Regionalen Transformationsnetzwerk ReTraNetz BB. Er plädiert für eine länderübergreifende Industriepolitik.
Stand:
Über die sozial-ökologische Transformation wird viel geredet und geschrieben. Wenn man in der Hauptstadtregion unterwegs ist, kommt jedoch schnell das Gefühl auf, dass der Ernst der Lage noch nicht überall erkannt ist. Zwar spielt Transformation im neuen Berliner Koalitionsvertrag eine Rolle, an anderer Stelle heißt es allerdings, dass „Berlins größte produzierende Branche die Kultur- und Kreativwirtschaft“ sei.
Der Fokus scheint also nicht zwingend auf der Berliner Industrie als wichtigen Wirtschaftsfaktor zu liegen. Das ist umso erstaunlicher, da es nach wie vor über 100.000 industrielle Arbeitsplätze in Berlin gibt, ähnlich hoch ist die Zahl in Brandenburg. Dazu kommen in Berlin noch einmal weit über 100.000 Arbeitende in der industrienahen Start-up- und Innovationswirtschaft.
Außerdem bietet die Industrie – anders als die Kultur- und Kreativbranche – in der Regel tarifgebundene, gute und mitbestimmte Arbeit. Ein wichtiger Aspekt zum Beispiel zur Bindung von Fach- und Arbeitskräften.
Für das Regionale Transformationsnetzwerk für die Fahrzeug- und Zulieferindustrie Berlin-Brandenburg (ReTraNetz BB) ist die Transformation seit Mitte 2022 das tägliche Geschäft. Ein Konsortium aus Sozialpartnern, Wirtschaftsförderungen beider Länder sowie Wissenschaft berät Unternehmen der Fahrzeugindustrie rund um alle Fragen der Transformation.
Als IG Metall haben wir für die Region eine klare Vision für die künftige CO₂-neutrale Wertschöpfungskette: Zukünftig zum Beispiel soll grüner Wasserstoff in Schwedt entstehen, aus dem in Eisenhüttenstadt grüner Stahl hergestellt wird, der in der Fahrzeugindustrie der Region verbaut wird. Kreislaufwirtschaft, Second Life und Recycling werden wichtige Industriezweige in der Transformation.
Tausende Arbeitsplätze bedroht
Doch der Ernst der Lage ist weder in der Wirtschaft noch in der Politik angekommen. In der Hauptstadtregion sind Tausende Arbeitsplätze bedroht – und das nur in der Fahrzeugindustrie. In dieser Situation sind Diskussionen wie die von der FDP geführte E-Fuels-Debatte Gift. Im Prinzip weiß jeder, dass das keine Alternative im Pkw-Bereich ist. Aber plötzlich träumen Verbraucher*innen und auch in der Industrie Arbeitende wieder von einer Zukunft des Verbrennermotors. Wichtige Zeit wird vergeudet – wegen einer populistischen Politikvolte.

© Tsp/Kevin P. Hoffmann
In der Struktur der Berlin-Brandenburger Fahrzeugindustrie besteht die Gefahr, dass die lokalen Produktionsstätten in der Transformation den Kürzeren ziehen. Gerade weil Transformation im Fahrzeugbereich oftmals bedeutet, die Wertschöpfung in der Antriebswende in die Stammwerke zu holen.
Was jetzt zu tun ist
1. Die von der Transformation betroffenen Unternehmen sollten schnellstens auf beiden Seiten der Sozialpartner Ansprechpartner*innen benennen, die mit den Netzwerken wie dem ReTraNetzBB, Wirtschaftsförderungen, Wissenschaft und Arbeitsagenturen eng zusammenarbeiten, um alle Fragen der Transformation in den Blick zu nehmen.
2. Beide Länder haben große Potenziale bei Erneuerbare Energien als wichtige Voraussetzung für CO₂-neutrale Produktion, in der industriellen Kreislaufwirtschaft und dem Battery-Circuit. Hier kann vieles im Rahmen der Revierwende angestoßen werden. Die Länder müssen diese Bereiche im Verbund in den Blick nehmen.
3. Dafür müssen zielgenaue Förderprogramme und -beratungen aufgelegt werden, um die Potenziale der Hauptstadtregion in der Konkurrenz der Industrieregionen zu heben. Hier ist Beratung im Dickicht der vielfachen Qualifizierungsförderungen in einer One-Stop-Agency beinahe so wichtig wie die Frage nach zielgenauer Förderung.
4. Für die Fahrzeugindustrie besteht mit dem ReTraNetz ein länderübergreifendes Netzwerk zur Sicherung der Arbeitsplätze und industriellen Struktur. Beide Länder sollten sich im Bund dafür einsetzen, dass diese Arbeit über den Förderzeitraum bis Juni 2025 hinausgehend verstetigt wird – notfalls auch mit Landesmitteln kofinanziert. Denn eine gelingende Transformation wird länger dauern.
5. Aus dem ReTraNetz BB heraus sollte spätestens 2025 eine länderübergreifende Agentur für industrielle Transformation und Qualifizierung entstehen. Zur Implementierung ist von beiden Landesregierungen ein Beirat zu gründen, in dem Vertreter*innen der für die Industriepolitik zuständigen Verwaltungen in Berlin und Brandenburg, Verbände, Sozialpartner, Regionaldirektion der Arbeitsagentur und der großen Industrieunternehmen vertreten sind. Die Politik wird abgestimmt gegenüber den in der Regel in anderen Ländern angesiedelten Konzernzentralen handlungsfähig. Das muss Chefsache beider Ministerpräsidenten sein.
Wenn diese Punkte zügig angegangen werden, kann die Region sich schnell aufstellen als wichtiger Industriestandort in Ost-Deutschland, der in der Transformation allein wegen seiner Erneuerbaren Energie die Nase vorne hat. Und Schwedt, Eisenhüttenstadt und die heimische Fahrzeugindustrie können als gelungene sozial-ökologische Transformation Vorbild sein.
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