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Wirtschaftsmetropole in der Sinnkrise: „Berlin braucht weniger Hypes und Hybris“
Viele Top-Führungskräfte Berlins beklagen eine in der Verwaltung verbreitete Neigung zu Beharrung und Verschleppung und zweifeln am Potenzial Berlins als Wirtschaftsmetropole. Ein Gastbeitrag.
Berlin sonnt sich gern im eigenen Glanz. Bei genauerer Betrachtung steckt in den vielen Hypes allerdings auch einiges an Hybris. Start-up-Hauptstadt Deutschlands? Es stimmt schon, bei uns sind mehr Start-ups aktiv als in München, der Nummer zwei im Ranking. Die bayerische Landeshauptstadt hat allerdings auch nur halb so viele Einwohner wie unsere Stadt.
Auch das höchstbewertete Einhorn in Deutschland – ein Start-up mit Marktbewertung von mindestens einer Milliarde US-Dollar – kommt aus München. Und überhaupt: Sollte sich Berlin nicht viel eher mit anderen Hauptstädten und internationalen Gründer-Hotspots – ich denke an Paris, London, Barcelona oder auch Lissabon – vergleichen?
Berlin, der Touristenmagnet? Ja, Besucher strömen weiterhin in Scharen an die Spree. Allerdings dürfte der Scheitelpunkt erreicht sein, Wachstumsraten wie in den vergangenen Jahren sind laut Tourismus-Chef Burkhard Kieker künftig jedenfalls nicht zu erwarten. Was nicht nur an der kräftigen Erhöhung der Bettensteuer liegen dürfte, sondern auch daran, dass am BER heute ein Drittel weniger Passagiere als vor der Pandemie (2019) abgefertigt werden.
Immer mehr Airlines treten nicht zuletzt aufgrund hoher Kosten den Rückzug an. Zum seit langem beklagten Mangel an Langestreckenrouten gesellt sich inzwischen auch ein spürbarer Rückgang an innereuropäischen und innerdeutschen Verbindungen. Kieker spricht inzwischen von einem „Arterienverschluss“, unter dem Berlin leide.
Apropos Anbindung: Wer nach 23 Uhr am BER ankommt, muss sich mit Bussen oder teuren Taxis ins Zentrum durchschlagen – die letzte Zugverbindung verkehrt um 23 Uhr. Auch das Kongress-Geschäft, einst Aushängeschild des Standorts, schwächelt: Bei Medizin-Tagungen sackte man weltweit im Vorjahr von Platz 2 auf Platz 12.
Prominente Manager auf dem Absprung
Zu den in Zahlen messbaren Warnzeichen gesellen sich nachdenklich stimmende Nachrichten aus dem Führungskreis der Wirtschaft in der Hauptstadtregion: Mit Berlin-Chemie-Standortleiter Christian Matschke und dem Wasserbetriebe-Chef Christoph Donner haben zuletzt zwei führende Köpfe ihren Rückzug angekündigt.
Gleiches gilt für Brandenburgs Wirtschaftsministers Jörg Steinbach: Mister Tesla steht für eine Koalition mit dem BSW nicht zu Verfügung – auch wegen antiamerikanischer Ressentiments in der Wagenknecht-Partei. Die BVG meldet derweil den nächsten Top-Manager-Abgang: Nach Betriebsvorstand Rolf Erfurt gibt auch die Bereichsleiterin U-Bahn, Nicole Grummini, ihren Posten auf.
Sicher, fünf Köpfe machen noch keinen Braindrain. Allerdings weiß ich aus vielen persönlichen Gesprächen: Weitere C-Levels aus der Metropolregion hadern mit Standortbedingungen und Standortmentalität, manche tragen sich mit Abwanderungsgedanken.
Berliner Mischung aus Beharrung und Verschleppung
Wer kann sie ersetzen? Eine einfache Frage, auf die es in Zeiten massiver Haushaltskürzungen sicherlich keine einfache Antwort gibt. Talente aus der Wissenschaft dürften sich angesichts des schleichenden Niedergangs der Wissenschafts-Infrastruktur kombiniert mit der jüngsten 280-Millionen-Euro Streichliste jedenfalls zweimal überlegen, ob sie an die Spree kommen. Jack Thoms, der als Chef des Forschungszentrums BIFOLD Berlin zur Top-Adresse für Künstliche Intelligenz machen soll, arbeitet mit seinem Team mangels Headquarters im Homeoffice.
Auch für unsere Stadt gilt: Wer seine Ideen nicht in die Tat umsetzen kann, zieht irgendwann frustriert die Reißleine. Wir alle erleben es jeden Tag: Immer dann, wenn es konkret wird, bleibt Vieles im zähen Kleinklein einer spezifischen Berliner Mischung aus Beharrung und Verschleppung stecken.
Dafür den Schwarzen Peter ausschließlich einer dysfunktionalen Stadtverwaltung zuzuschieben, führt in die Irre. Es fehlt auch und gerade an einem gemeinsamen Verantwortungsgefühl der Berlinerinnen und Berliner für ihre Stadt. Berlin, die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten? Eine verlockende Vision, die zweierlei braucht: mehr Identifikation und Engagement, weniger Hypes und Hybris.
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