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Viele sind in den 60er und 70er Jahren in die Gegend gezogen und dort geblieben.

© dpa/Britta Pedersen

Zum Weltseniorentag: Wie Ältere im Zentrum leben: Besuch in der Rentner-Enklave

Eigentlich gilt in Berlin; je zentraler, desto jünger. Doch im hippen Bezirk Mitte gibt es ein Gebiet, in dem ein Drittel der Bewohner älter als 65 Jahre ist. Ein Besuch.

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Die Plattenbausiedlung am östlichsten Zipfel von Berlin-Mitte ist wie das Negativbild dieses Bezirks. Keine tätowierten Geschäftsleute, die in den Straßencafés Espresso trinken, keine Boutiquen mit teuren Klamotten, keine Oldtimer, die hupend durch die Straßen rollen. Wer den kleinen Stadtteil hinter der Karl-Marx-Allee zwischen Alexanderplatz und Volkspark Friedrichshain vormittags besucht, begegnet einer Frau mit Stock, einem Ehepaar, das den Müll rausbringt, und Anwohnern, die Lebensmittel aus dem Discounter in ihrem Rollator nach Hause transportieren.

Während sich Mitte, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg in den vergangenen Jahren komplett erneuerten, blieb dieser Stadtteil auf den ersten Blick offenbar unverändert. Kein Restaurant hat hier eröffnet, kein Kiosk. Kleine Vorgärten, wohin man schaut. Mittlerweile ist ein Drittel der Bewohner älter als 65 Jahre, nur jeder zehnte ist unter 27, also jung. Damit ist dieses Gebiet, dem nie ein Name gegeben wurde, zwar nicht das älteste Berlins, aber doch das älteste im Bezirk Mitte.

Eine schicke Frau in rotem Mantel

Renate ist 86 Jahre alt und wohnt seit mehr als einem halben Jahrhundert in der Berolinastraße. Eine schicke Frau in rotem Mantel, in ihrem Rollator frische Schnittblumen und eine Tüte Brötchen. Sie war – wie viele, die heute noch hier wohnen – eine der Ersten, die in die Neubauten gezogen sind. Ob es damals noch die Straßenbahnlinie gab, weiß sie nicht mehr, aber an das Einzugsdatum erinnert sie sich genau: der 15. Dezember 1961. „Damals waren die Straßen noch nicht gepflastert. Wenn es regnete, liefen wir durch den Schlamm nach Hause und sahen aus, als kämen wir vom Lande“, erzählt sie und lacht. Heute ist von dem provinziellen Flair im Zentrum Berlins nichts mehr übrig. Die Straßen sind geteert, die Gehwege gepflastert, die silberne Kuppel vom Fernsehturm strahlt über den zehngeschossigen Gebäuden in der Sonne.

Wegziehen, das wäre Renate nie in den Sinn gekommen. Ihre Tochter ist hier aufgewachsen, sie selbst konnte zu Fuß zu ihrer Arbeit laufen, im Haus der Statistik, nur zehn Minuten entfernt. Das Viertel habe sich in bestimmten Dingen verändert, sagt sie. „Früher hatte ich fünf Schlüssel von verschiedenen Nachbarn am Brett hängen.“ Heute kenne sie nur noch die Älteren in ihrem Block. Sie habe weniger Vertrauen in Menschen, deshalb will sie ihren vollen Namen auch lieber nicht in der Zeitung lesen.

Früher müssen durch die Straßen Kinder gesprungen sein, als die vielen jungen Familien in den 60er und 70er Jahren in die neu gebauten Wohnungen eingezogen sind. Heute stehen in den Eingängen noch wenige Kinderwägen und viele Rollatoren. Die Plattenbausiedlung in Mitte, mit den vielen alten Bewohnerinnen und Bewohnern, ist eine Ausnahme in Berlin. Denn es gilt: je zentraler, desto jünger. Seniorinnen und Senioren leben eher am Stadtrand: am Wannsee, in Köpenick, in Reinickendorf oder in Marienfelde.

Der von den Bewohnern her älteste Kiez Berlins befindet sich hinter dem Olympiastadion im Westend. In der Angerburger Allee ist jeder zweite Bewohner mindestens 65 Jahre alt, nur sieben Prozent sind unter 18. Hohe graue Wohnblöcke, ein paar Cafés und eine Apotheke. Aus dem nahe gelegenen Grunewald verirren sich vereinzelt Wildschweine.

Viele Ältere wohnen heute in Einfamilienhäusern am Stadtrand

Der Stadtforscher Sigmar Gude vom Stadtforschungsinstitut „Topos“ sagt, dass heute viele ältere Menschen an den Rändern der Stadt in Einfamilienhäusern wohnen. „Sie ziehen als junge Familien ein, die Eltern bleiben dann wohnen, auch wenn die Kinder aus dem Haus sind.“ Dass in einigen Vierteln in Berlin überwiegend Senioren wohnen, seien demnach natürlich gewachsene Strukturen. Das gelte auch für die Sozialwohnungen, von Marzahn bis Märkisches Viertel, von Pankow bis Gropiusstadt oder die Platte an der Karl-Marx-Allee, in der die 86-jährige Renate wohnt. Nach ihrer Entstehung in den 50er, 60er und 70er Jahren zogen junge Paare ein. Heute sind sie 70, 80 oder 90 Jahre alt. Sie sind an ihr Viertel gewöhnt, die Mieten haben sich im Gegenteil zum Rest Berlins nicht wesentlich verändert. Für die Stadt ist diese einseitige Bevölkerungsstruktur ein teures Problem. Sie muss Kindergärten und Schulen bereitstellen, die nur ein paar Jahre in Betrieb sind und dann geschlossen werden, leer stehen oder verkauft werden, wenn die Kinder aus den Kiezen wegziehen und die Alten wohnen bleiben.

Doch gerade die Siedlungen mit Sozialwohnungen erlebten einen Umbruch, sagt Sigmar Gude. Ein Ablösungsprozess, der relativ spät stattfindet, auch weil die Alten immer älter werden und länger in ihren Wohnungen leben bleiben. Dieser Umbruch hat mittlerweile auch den Kiez an der Karl-Marx-Allee erreicht. Hinter Renate hämmert es und rattert es, eine neue Schule für das Viertel wird gerade gebaut. Um das leer stehenden Haus der Statistik soll in Zukunft ein neues Quartier entstehen und auch mitten im Kiez soll bald eine neue Platte gebaut werden. Mehrmals im Monat fahren die Laster der Entrümpelungsunternehmen vor, weil wieder jemand gestorben oder in eine Pflegeeinrichtung gezogen ist. Der Kiez wird jünger.

Je stärker ein Stadtteil in den vergangenen Jahren gentrifiziert wurde, desto weniger ältere Menschen wohnen dort, sagt Stadtforscher Sigmar Gude. Beispiel Prenzlauer Berg. Im Kollwitzkiez oder am Helmholtzplatz leben nur noch wenige Hundert Personen, die älter als 65 sind, etwa fünf Prozent der Bevölkerung. Fast die Hälfte sind zwischen 30 und 45 Jahren, junge Besserverdiener mit Kindern. Die Wartelisten für einen Kitaplatz sind lang – noch. In 20 Jahren, das prognostiziert Sigmar Gude, werde es auf den heute überfüllten Spielplätzen in Prenzlauer Berg so still sein wie heute in der Siedlung hinter der Karl-Marx-Allee.

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