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Bei der Code Week im Humboldt Forum wurde das neue BVV-Planspiel das erste Mal von zehn Spieler:innen getestet. 

© Foto: TSP/Corinna von Bodisco

Berliner Bezirkspolitik zum Ausprobieren: „Demokratie dauert oft ganz lang, hier geht es schneller“

Was machen Politiker in den Bezirksverordnetenversammlungen? Das verdeutlicht ein neues Planspiel – und zeigt, wie sich Berliner einbringen können.

Charlotte Drath von der Agentur Planpolitik eröffnet mit den Worten „Wir befinden uns im 13. Bezirk Biberfelde“ eine Premiere. Zum ersten Mal wurde am 8. Oktober bei der Code Week im Humboldt Forum ein Planspiel zur Bezirkspolitik gespielt, das es in dieser Form – sowohl digital als auch live vor Ort – noch nicht gegeben hat. 

Ein Planspiel ist eine vereinfachte Form der Wirklichkeit, in diesem Fall angewendet auf die gewählte Vertretung in den Berliner Bezirken: die Bezirksverordnetenversammlung, kurz BVV. Vielen Berliner:innen mag dieses komplizierte Wort nichts sagen, obwohl sie ihre Anliegen dort zum Thema machen könnten.

Die Idee dahinter: Das BVV-Planspiel unterstütze Menschen „bei der direkten demokratischen Teilhabe in ihren Kiezen“, wird auf der Webseite planspiel-bezirkspolitik.de versprochen. Es ist Teil des Projekts „Mitreden und mitmachen im Bezirk“ vom Verbund Öffentlicher Bibliotheken Berlins (VÖBB) und von Planpolitik, einer Agentur, die interaktive Formate zu politischen Themen entwickelt – in Kooperation mit Tagesspiegel Bezirke. 

Anlässlich der Code Week, einer Art Mitmach-Messe, die Jung und Alt spielerisch zum Tüfteln, Hacken und Programmieren einlädt, schlüpften zehn Menschen in die Rollen von Bezirksverordneten – so der Name der Politiker:innen in den BVVen –, um ein Problem zu diskutieren: „Biberfelde wird von der vier Kilometer langen Kiefernstraße durchquert und es kommt immer wieder zu Streit zwischen Auto- und Radfahrern“, sagt Charlotte Drath. Beim Planspiel-Szenario geht es darum, ob eine Straße in eine Fahrradstraße umgewandelt wird, weil es dort einen schweren Verkehrsunfall gab. 

Radfahren auf der Kiefernstraße ist gefährlich. Die Szenarien und die Verordneten des Planspiels wurden von Berta Cusó illustriert (bertacuso.com).
Radfahren auf der Kiefernstraße ist gefährlich. Die Szenarien und die Verordneten des Planspiels wurden von Berta Cusó illustriert (bertacuso.com).

© Illustration: Berta Cusó

Die BVV des fiktiven Berliner Bezirks Biberfelde wird mit einer Glocke eingeläutet und zwei Sitzungsleiter:innen – im echten Leben Vorsteher:innen genannt – führen durch die Sitzung. Die Umweltpartei hat einen Antrag eingereicht: „Es ist etwas Schreckliches passiert“, sagt ein Verordneter dieser Partei und meint damit den Unfall. Deswegen müsse die komplette Straße zur Fahrradstraße werden. „Es geht auch um die Zukunft unserer Kinder, wir bitten um Unterstützung für unseren Antrag.“

Doch so einfach ist das nicht. „Es kann nicht die Lösung sein, dass der Zugang zu Geschäften eingeschränkt wird“, kontert die Wirtschaftspartei. Auch die Heimatpartei lehnt den Antrag ab: „Wir brauchen Regeln und Kontrolle!“ Der Verordnete wirbt für Polizeikontrollen und einen Fahrradführerschein.

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Die sozialistische Partei setzt sich dafür ein, dass Krankenwagen weiterhin durch die Straße fahren müssen, und optiert für einen geschützten Radweg. Eine farbliche Kennzeichnung schlägt die konservative Partei vor und erklärt: „Die kaufkräftige Kundschaft reist nun mal mit ihren privaten Pkw an. Wir brauchen die Steuereinnahmen von den Pkw und von den Anrainer-Geschäften. Unsere Stadt wird eh immer autofeindlicher.“

Die Spieler:innen müssen ihre Rollen und Argumente nicht ad hoc erfinden. Vor der Diskussion wird ihnen ein „digitales Skript“ zur Verfügung gestellt. Über ein Tablet kann sich jede:r in eine Online-Plattform einloggen, in seine Rolle einarbeiten und den Antrag lesen. Die Verordneten können außerdem miteinander chatten und vor der Diskussion im Plenum in einer Fraktionssitzung Argumente austauschen. 

In der Einarbeitungsphase können sich die Spieler:innen in ihre Rolle, das Szenario und den Antrag einlesen.
In der Einarbeitungsphase können sich die Spieler:innen in ihre Rolle, das Szenario und den Antrag einlesen.

© Foto: TSP/Corinna von Bodisco

Die Diskussionsbeiträge können auch über das Skript hinausgehen. „Ich wollte nicht das Gegebene einfach vorlesen, weil ich es dann nicht so überzeugend rüber bringen kann“, sagt Tilmann Häußler, der im echten Leben BVV-Erfahrung hat, weil er in Mitte Bürgerdeputierter ist. Doch auch Spieler:innen mit weniger Erfahrung werden im Laufe der Diskussion kreativ und erfinden Geschichten dazu, wenn es ihrer Argumentation dient.

Obwohl das fiktive Szenario vereinfacht wurde, zeigt es große Parallelen zu den echten Sitzungen auf. „Man kennt diese Argumente: Wirtschaft, Freiheit – das sind Schlagwörter, die man reproduzieren kann“, sagt Leonie Stumpfögger, im Planspiel eine Verordnete der Wirtschaftspartei. Die Position zu vertreten, die nicht ihrer eigenen Einstellung entspricht, habe sie „eine gewisse Überwindung gekostet“.

Premiere: Beim ersten Durchlauf des neuen BVV-Planspiels schlüpften zehn Menschen in die Rolle von fiktiven Bezirksverordneten. 
Premiere: Beim ersten Durchlauf des neuen BVV-Planspiels schlüpften zehn Menschen in die Rolle von fiktiven Bezirksverordneten. 

© Foto: TSP/Corinna von Bodisco

Auch die Zusammensetzung der zehnköpfigen Gruppe – zum Teil Plätze, die über die Tagesspiegel Bezirksnewsletter verlost wurden – könnte, wie in den echten BVVen, diverser sein. „Ich war der einzige PoC (People of Color) der Gruppe“, merkt Wilfred Josue an, stellvertretender Vorsitzender des Integrationsbeirates Steglitz-Zehlendorf. 

Die Zusammensetzung der Verordneten in den Bezirksverordnetenversammlungen könnte diverser sein - zumindest in den Illustrationen von Berta Cusó wurden sie für die fiktiven Szenarien des Planspiels so dargestellt (bertacuso.com).
Die Zusammensetzung der Verordneten in den Bezirksverordnetenversammlungen könnte diverser sein - zumindest in den Illustrationen von Berta Cusó wurden sie für die fiktiven Szenarien des Planspiels so dargestellt (bertacuso.com).

© Illustration: Berta Cusó

Das Planspiel mit insgesamt drei Szenarien zu den Themen Fahrradstraße, Bebauung und Beleuchtung (letzteres in einfacher Sprache), soll ab dem Frühjahr 2023 in allen zwölf Bezirken fester Bestandteil des Angebots in den Bibliotheken werden. Wer schon davor Interesse an einem Testspiel hat, kann eine Terminanfrage stellen. 

Das Planspiel ist ein Beispiel für die konkrete Anwendung von Fähigkeiten, die in den Öffentlichen Bibliotheken erworben werden können.

Silvia Vormelker, VÖBB-Servicezentrum/ Digitale Bildungsangebote

Doch warum gerade in den Bibliotheken? „Das Planspiel ist ein Beispiel für die konkrete Anwendung von Fähigkeiten, die in den Öffentlichen Bibliotheken erworben werden können“, erklärt Silvia Vormelker vom VÖBB-Servicezentrum, die an der Entwicklung des BVV-Projekts beteiligt ist. Gemeint ist die sogenannte Informationskompetenz. „Die Spieler:innen haben am Beispiel der BVV-Sitzung direkt erlebt, wie eng politisches Handeln und ein souveräner Umgang mit Informationen zusammenhängen“, resümiert Vormelker. 

Und welcher Ort wäre für die Recherche von Informationen geeigneter als die Öffentlichen Bibliotheken – „mit ihren Online-Datenbanken, Statistik-Plattformen, Presse-Archiven und Bibliotheksbeschäftigten, die sie bei der Recherche professionell unterstützen“. Außerdem könne das Projekt bewirken, dass Spieler:innen selbst eine Anfrage oder einen Antrag in echte BVVen bringen und so politisch teilhaben. 

Neben dem Planspiel gehört noch ein Quiz zum Projekt, das bereits jetzt online gespielt werden kann. In welcher Zeit muss die BVV über einen Einwohnerantrag entscheiden? Kann die BVV auch Bezirksamt genannt werden? Zu jeder der acht Fragen gibt es eine Erklärung und am Ende wird ausgewertet, welcher „BVV-Typ“ der:die Spieler:in ist (BVV-Anfänger:in, -Kenner:in oder -Profi).

Beim ersten Planspiel-Durchlauf im Humboldt-Forum stimmten die Spieler:innen übrigens für einen Kompromiss: einen geschützten Fahrradweg. Die meisten hätten sich eine längere Diskussion gewünscht. Das Fazit der Planspiel-Entwicklerin Charlotte Drath: „Demokratie dauert oft ganz lang, hier geht es schneller.“

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