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Der Bestseller-Autor Sebastian Fitzek unterstützt das Alpha-Bündnis Steglitz-Zehlendorf. Nicht nur, aber auch, weil er in Zehlendorf lebt.

© Sebastian Busses Pictures

Mut machen zum Lesen und Schreiben lernen: Jetzt hat auch der letzte Berliner Bezirk ein Alpha-Bündnis

Über 20.000 Analphabeten gibt es in Steglitz-Zehlendorf. Jetzt koordiniert eine bezirkliche Koordinationsstelle Hilfe und hofft auf viele Unterstützer.

Gerhard Prange konnte bis vor zwölf Jahren nicht lesen und schreiben. „Wir waren sieben Kinder und meine Eltern konnten mir nicht vorlesen und so – und da war es natürlich ganz schön schwer für mich, in der Schule lesen und schreiben zu lernen.“ Er ist 65 Jahre alt, geboren ist er in Lichterfelde.

Erst besuchte er eine normale Grundschule, dann wechselte er in eine Sonderschule, 40 Kinder waren in seiner Klasse. „Und ich habe hinten gesessen“, erzählt er. Erst als seine Ärztin ihm mitteilte, dass seine Leberwerte nicht stimmen würden und er keinen Alkohol mehr trinken durfte, entschied er sich, einen Alphabetisierungskurs zu machen – er hatte sich im Jobcenter beraten lassen. „Bis heute bin ich in der Schule“, sagt er. „Mein Ziel war, meiner Tochter vorlesen zu können – jetzt ist sie 19 und hat als erste in meiner Familie Abitur gemacht. Vorlesen muss ich ihr nicht mehr.“

So wie Gerhard Prange geht es vielen Menschen im Bezirk: Sie können nicht oder nur schlecht lesen und schreiben. Berlinweit wird mit 320.000 Erwachsenen gerechnet, denen es ähnlich geht. In Steglitz-Zehlendorf könnten es mehr als 20.000 Menschen sein, die funktionale Analphabeten sind. Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Wer nicht das Straßenschild, das Formular oder eine Anleitung lesen kann, ist gesellschaftlich und beruflich eingeschränkt, es ist eine belastende Situation.

Schriftsteller Sebastian Fitzek (links) und Gerhard Prange, der erst vor zwölf Jahren lesen lernte, bei der Gründung des Alpha-Bündnisses Steglitz-Zehlendorf. 
Schriftsteller Sebastian Fitzek (links) und Gerhard Prange, der erst vor zwölf Jahren lesen lernte, bei der Gründung des Alpha-Bündnisses Steglitz-Zehlendorf. 

© Sebastian Busses Pictures

Um die Betroffenen besser über möglichst niedrigschwellige Bildungsangebote informieren zu können, neue Angebote zu schaffen und Ämter, Arbeitgeber, Sportvereine und Beratungsstellen zu sensibilisieren, wurde vergangene Woche das Alpha-Bündnis Steglitz-Zehlendorf gegründet.

„Steglitz-Zehlendorf ist das Schlusslicht“, sagte Kerstin Bolik, die Aufbauhelferin und Koordinatorin des neuen Bündnisses, gestern beim Gründungsakt im Gutshaus Steglitz. Jetzt habe jeder Bezirk seine Koordinierungsstelle für Alphabetisierung: „Nur zusammen sind wir stark“, sagte sie und bedankte sich bei den bereits existierenden Bündnissen in der Stadt für die Unterstützung und gute Vernetzung.

Es ist kein kleines Problem, auch wir im Bezirk dürfen nicht die Augen verschließen.

Cerstin Richter-Kotowski, Bildungsstadträtin und Schirmherrin des Alpha-Bündnisses

Jeder Achte kann nicht ausreichend lesen und schreiben. „Es ist kein kleines Problem“, sagte Bildungs- und Kulturstadträtin Cerstin Richter-Kotowski (CDU), sie hat die Schirmherrschaft für das neue Bündnis übernommen. „Auch wir im Bezirk dürfen nicht die Augen verschließen.“

„Steglitz-Zehlendorf ist das Schlusslicht“: Kerstin Bolik ist die Koordinatorin des neuen Alpha-Bündnisses.
„Steglitz-Zehlendorf ist das Schlusslicht“: Kerstin Bolik ist die Koordinatorin des neuen Alpha-Bündnisses.

© Sebastian Busses Pictures

Die Gründung des Bündnisses „ist ein wichtiges Symbol und Ausdruck davon, dass Politik, Wirtschaft – bei der Wirtschaft kann das gerne noch mehr werden – und Gesellschaft das Thema ernst nehmen“, ergänzte Simone Will aus der Geschäftsführung des Nachbarschaftsvereins Mittelhof. Der Verein ist Träger des Bündnisses. Die Betroffenen seien „überwiegend unsichtbar“, die fehlende Alphabetisierung sorge für Leid und verhindere Teilhabe, so Simone Will.

Bisher arbeiten neben dem Mittelhof, dem Stadtteilzentrum Steglitz, dem bezirklichen Diakonischen Werk, der Bundesagentur für Arbeit und dem Jobcenter auch die Stadtbibliothek und die Volkshochschule im Bündnis mit. „Unternehmen dürfen gerne noch mehr ins Boot kommen, auch Sportvereine“, sagte Simone Will vom Mittelhof.

Für mich sind Menschen, die nicht lesen und schreiben können, nicht Opfer, sondern sehr häufig Helden.

Schriftsteller Sebastian Fitzek

Alle Rednerinnen betonten, dass es darum gehe, nicht wegzusehen, wenn die Eltern eines Schülers das Anmeldeformular für die Klassenfahrt trotz Nachfragen nicht ausfüllen. Es gehe darum, sensibel zu handeln, wenn die Kollegin das Weiterbildungsangebot für die Beförderung immer wieder ausschlägt. Ob im Sportverein, in der Kirche, im Laden oder bei der Arbeit – „lassen Sie uns über das Alpha-Bündnis das Thema in die Öffentlichkeit tragen und den Menschen wirksam helfen“, forderte Simone Will die Anwesenden auf. Gerhard Prange klatschte – so wie alle der etwa 50 Gäste im Saal.

Neben Gerhard Prange gab es noch einen zweiten Ehrengast an diesem Nachmittag: Der Schriftsteller Sebastian Fitzek lebt nicht nur in Zehlendorf, er ist auch Schirmherr des Alpha-Selbsthilfe Dachverbands. „Für mich sind Menschen, die nicht lesen und schreiben können, nicht Opfer, sondern sehr häufig Helden“, sagte der Thriller-Autor. Denn sie trügen ein Geheimnis in sich, keiner solle wissen: Ich kann nicht so gut lesen, ich kann nicht so gut schreiben. „Um dieses Geheimnis zu wahren, meistens aus Scham, vollbringen sie häufig intellektuelle Höchstleistungen“, so Sebastian Fitzek.

Die Gründerinnen und Gründer: Gerhard Prange (dritter von rechts), daneben Sozialstadtrat Tim Richter (CDU) und Kerstin Bolik. In der Mitte steht Sebastian Fitzek, links neben ihm Bildungsstadträtin Cerstin Richter-Kotowski (CDU) und Simone Will vom Nachbarschaftsverein Mittelhof.
Die Gründerinnen und Gründer: Gerhard Prange (dritter von rechts), daneben Sozialstadtrat Tim Richter (CDU) und Kerstin Bolik. In der Mitte steht Sebastian Fitzek, links neben ihm Bildungsstadträtin Cerstin Richter-Kotowski (CDU) und Simone Will vom Nachbarschaftsverein Mittelhof.

© Sebastian Busses Pictures

Er kenne zum Beispiel eine Kellnerin, die die gesamte Speisekarte auswendig gelernt habe. Er habe einen Arbeiter kennen gelernt, der alle Regalbezeichnungen im Lager seiner Firma gepaukt hat, um zu wissen, wo er hin muss, wenn eine Bestellung eingeht. Diese Leistungen seien bewundernswert – zugleich entgehe der Gesellschaft ein riesiges Potenzial, wenn den Betroffenen nicht geholfen werde.

Am Ende hatte wieder Gerhard Prange das Wort: „Damit ist das Alpha-Bündnis Steglitz-Zehlendorf gegründet“, sprach er ins Mikrofon. Es wurde applaudiert, und dann verteilten sich die Zeuginnen und Zeugen der Bündnis-Gründung an die Stehtische und das Buffet – auch um konkrete Vorhaben zu besprechen.

Konkrete Projekte: Sensibilisierungsschulungen für das Amt, Ausfüllhilfe, mehr Einfache Sprache

Sozialstadtrat Tim Richter (CDU) sagte zu, beginnend im Bürgeramt Sensibilisierungsschulungen für die Mitarbeitenden zu organisieren. Ilona Weinen, die Leiterin des Mehrgenerationenhauses Phoenix, richtet ab Mitte Oktober einmal wöchentlich eine Ausfüllhilfe ein: Zu einem fixen Termin können sich dann Betroffene dabei helfen lassen, Formulare auszufüllen – sei es für das Amt, für das Jobcenter, für die Klassenfahrt des Kindes oder die Meldung für das Sportevent.

Die Stadtbibliothek hat auf dem Schirm, mehr Lektüre in Einfacher und Leichter Sprache anzuschaffen. Kerstin Bolik sucht nach Veranstaltungen, bei denen sich das Alpha-Bündnis präsentieren kann – sie könne sich auch vorstellen, einen Stand auf einem Adventsmarkt zu organisieren. Allerdings nur, „wenn es anständigen Glühwein gibt“.

Schwierig gestaltet sich die Suche nach weiteren Kooperationspartnern. Als sich Kerstin Bolik an Handwerksbetriebe im Südwesten wandte, habe es keine Resonanz gegeben. Auch ihr Schreiben an die bezirkliche Wirtschaftsförderung sei bislang unbeantwortet geblieben.

Dabei sei es für Betriebe wichtig, die Potenziale ihrer Mitarbeitenden zu erkennen und zu fördern, sagt sie – wenn Qualifizierungsangebote nicht wahrgenommen werden würden, weil sich Kollegen nicht als funktionale Analphabeten outen wollten, würden Chancen verspielt. Besser sei es, die Beschäftigten zu unterstützen. Das erfordere jedoch vor allem eines: Arbeitgeber mit dem Willen zu lernen und zu helfen. Dabei assistiere das Alpha-Bündnis gerne, so Kerstin Bolik.

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