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Missbrauch: Canisius-Kolleg: Der schwierige Weg der Veränderung

Vor zwei Jahren wurden die ersten Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg bekannt. Heute geht es hier vor allem um Prävention. Doch viele Opfer sind enttäuscht – von der Kirche.

Zwei Menschen sind zu sehen, sie kauern geknebelt im Bildvordergrund. Hinter ihnen erhebt sich tosendes Rot. Tobias Zimmermann hat das Bild gemalt, es hängt über seinem Schreibtisch im Rektorenzimmer des Canisius-Kollegs.

Der Jesuit ist seit Sommer 2011 Nachfolger von Pater Klaus Mertes, der nach St. Blasien wechselte. Am 19. Januar vor zwei Jahren hatte Mertes einen Brief an 600 ehemalige Schüler geschrieben und sie über Fälle von sexuellem Missbrauch am Canisius-Kolleg informiert. Er hat damit eine Lawine ausgelöst. Wie geht die Schule heute mit dem Thema um?

Er habe lange überlegt, ob er das Gemälde über seinen Schreibtisch hängen soll, sagt Pater Zimmermann. In den anderen Räumen des Hauses in der Tiergartenstraße hängen Kreuze an der Wand. Hier nicht. Er wollte das Leid der Kreatur nicht als abstraktes Symbol zeigen, sondern so, dass es ins Auge fällt. „Das Leid muss ernst genommen werden“, sagt Zimmermann. „Es hört ja nicht auf.“ Er ist 44 Jahre alt und in München zur Schule gegangen. Er kannte die prügelnden und Kinder missbrauchenden Pater des Canisius-Kollegs nicht. Als er an die Berliner Schule kam, waren sie längst weg. Er frage sich oft, wie stark die Zivilisation ist, wie stark, um Menschen davon abzuhalten, anderen Schmerz zuzufügen.

„Soziales Lernen“ heißt das pädagogische Konzept, das den Schülern im Canisius-Kolleg neben dem klassischen Unterricht vermitteln soll, dass sie aufeinander achten statt auszugrenzen, dass sie Verantwortung für sich und für andere übernehmen. „Es geht darum, Grenzen zu achten, die eigenen und die der anderen, es geht um Respekt und den Mut, den Mund aufzumachen, wenn einem etwas nicht gefällt“, sagt Pater Zimmermann. Wie kann man Schüler noch mehr einbeziehen? „Darüber haben wir nachgedacht“, sagt er. Die Einrichtung von Klassenräten war eine Folge. Wie man Jugendliche stärken kann, wie sie ermutigen, Verantwortung zu übernehmen, das wird nachmittags auch spielerisch eingeübt im Jugendclub auf dem Kolleg-Gelände. „Entscheidend ist das Schulklima“, sagt Schulleiterin Gabriele Hüdepohl. Dass die Kinder merken, sie werden ernst genommen mit ihren Sorgen und ihren Beschwerden.

Als das Thema sexueller Missbrauch vor zwei Jahren über die Schule „hereingebrochen“ ist, wie Hüdepohl es ausdrückt, hätten die Lehrer viel mit den Schülern und den Eltern gesprochen und versucht, den Schulalltag aufrechtzuerhalten. Heute sei das Thema für die Schüler Geschichte, sagt Hüdepohl. „Was damals passiert ist, war schlimm“, sagt eine Siebtklässlerin, „aber das hat nichts mit uns heute zu tun. Wir fühlen uns hier sicher“. Die Mutter einer Sechstklässlerin sagt, Pater Mertes habe die Eltern gut informiert und so ihr Vertrauen nicht verloren. Die Anmeldezahlen sind leicht zurückgegangen, was Eltern aber nicht auf den Missbrauchsskandal zurückführen, sondern auf das gewachsene Angebot an Privatschulen in Berlin.

Mittlerweile gibt es auch regelmäßige Präventionsveranstaltungen am Canisius-Kolleg. Die Fünftklässler besuchen die Einrichtung „Kind im Zentrum“, eine Beratungsstelle für sexuell missbrauchte Jugendliche. In der achten Klasse steht ein Besuch der Mädchen bei „Wildwasser“ im Stundenplan, einer Organisation, die missbrauchten Mädchen und Frauen hilft; die Jungen gehen zu „Tauwetter“, einer Einrichtung für missbrauchte Jungen und Männer. „Die Kinder sollen wissen, wo sie Hilfe finden, wenn ihnen etwas zustößt, sie sollen Ansprechpartner auch außerhalb von Familie und Schule kennen“, sagt Schulleiterin Hüdepohl. Lehrer und Jesuitenpatres hätten auch einen Präventionsleitfaden erarbeitet, im Moment stimme man ihn mit externen Experten ab. „Das sind wichtige Prozesse.

Aber die brauchen Zeit, um nachhaltig zu wirken“, sagt Hüdepohl. Das sei nicht einfach, innerhalb eines Schuljahres sei alles sehr eng getaktet, der Kalender voll mit Alltagsgeschäft, mit Unterrichtseinheiten, Prüfungen. Es wird also noch eine Weile dauern, bis auf der Internetseite unter den Stichworten Missbrauch und Prävention mehr steht als „Informationen werden in Kürze zur Verfügung gestellt“.

Für Zimmermann und Hüdepohl steht in der schulischen Präventionsarbeit das Wohl der heutigen Jugendlichen im Vordergrund, nicht das Leid der ehemaligen Schüler, denen vor 30 und 40 Jahren an diesem Ort Furchtbares angetan wurde. Einer der Ehemaligen hatte vorgeschlagen, mit den heutigen Schülern über Missbrauch zu sprechen. „Ich sehe den Rahmen dafür derzeit nicht“, sagt Pater Zimmermann. „Wo Opfer in der schulischen Präventionsarbeit zu Wort kommen, kann eine Organisation wie Tauwetter eher einen angemessenen Gesprächsrahmen herstellen als wir, die wir als Schule für die Opfer zunächst einmal Täterinstitution sind.“

950 Betroffene haben bei der Deutschen Bischofskonferenz einen Antrag auf Entschädigung gestellt. Bis zu 5000 Euro pro Person wurden ihnen versprochen. In 90 Prozent der Fälle sei eine Zahlung empfohlen worden, heißt es bei der Bischofskonferenz. Aber viele, die das Thema in die Öffentlichkeit gebracht haben und denen es zu verdanken ist, dass eine Debatte in Gang gekommen ist, sind frustriert und haben sich zurückgezogen. Sie hatten gehofft, dass sie bei den Runden Tischen und Expertengremien, die ins Leben gerufen wurden, selbstverständlich eingeladen werden und nicht erst nach langen Kämpfen; sie hatten sich gewünscht, dass auch in Deutschland eine unabhängige Untersuchungskommission wie in den Niederlanden eingesetzt wird. Das niederländische Gremium sprach von bis zu 20 000 Minderjährigen, die zwischen 1945 und ’85 von 800 Mitarbeitern in katholischen Einrichtungen in den Niederlanden missbraucht wurden. Die Deutsche Bischofskonferenz kann auch zwei Jahre nach Bekanntwerden der ersten Fälle im Canisius-Kolleg nicht sagen, wie viele Kinder wohl in Deutschland betroffen waren, wie viele Täter es gibt. Sie verweist auf eine laufende wissenschaftliche Studie, deren Ergebnis vielleicht in drei Jahren vorliegt. Dafür sollen Personalakten seit 1945 untersucht werden, allerdings nur in 9 der 27 Bistümer. „Wie viele Fälle es in Deutschland gibt, werden wir wohl nie erfahren“, sagt ein Betroffener der Opferinitiative „Eckiger Tisch“. „Wir haben uns in Deutschland so von der Kirche über den Tisch ziehen lassen, dass ich mich schäme.“

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